Waren Ritter in Rüstung wirklich so unbeweglich?

Wenn ein Ritter in Rüstung vom Pferd fiel, war er nicht in der Lage, ohne Hilfe wieder aufzustehen. Bei Turnieren mussten die Teilnehmer mit einem Kran oder einer ähnlichen Einrichtung auf ihr Pferd gehoben werden, weil die Rüstungen so schwer waren. Laufen war in diesen Blechbüchsen fast unmöglich, denn sie waren ausschließlich für den Kampf zu Pferde gemacht.
Solcherart sind die Behauptungen über mittelalterliche Rüstungen, die man immer wieder hören und lesen kann. Sie wurden zwar von Forschern und Praktikern schon vielfach widerlegt und als Mythen entlarvt, doch scheinen sie in der Vorstellung vieler Menschen geradezu unerschütterlich verankert zu sein (und durch Filme und Fernsehbeiträge immer wieder bestätigt zu werden).
Hier also ein weiterer Versuch, solche irrigen Annahmen zu entkräften.

Die Entwicklung der mittelalterlichen Körperrüstung verlief parallel und in Abhängigkeit von immer weiter verbesserter Waffentechnologie und Kampftaktik. Die den Körper vollständig umhüllende Plattenrüstung stellt dabei den Endpunkt dieser Evolution dar. Sie entstand im 14. Jahrhundert und wurde durch den verstärkten Einsatz von Feuerwaffen im 16. Jahrhundert zunehmend obsolet. Lediglich im Turnierwesen wurde sie weiterhin getragen und fortentwickelt.
Insbesondere beim sogenannte Scharfrennen, dem Tjost mit spitzen Lanzen, kamen spezielle Plattenrüstungen zum Einsatz. Sie waren für diese lebensgefährliche Disziplin optimiert und zu keinem anderen Zweck geeignet. Der Helm verfügte nur über einen schmalen Sehschlitz, der dazu zwang, den Kopf nach unten geneigt zu halten. Die Brustplatte war aus besonders starkem Stahl gefertigt und häufig reich verziert. Der Schulterbereich war ebenfalls verstärkt und schränkte die Bewegung ein, um Brüche und andere Verletzungen beim Aufprall der Lanze zu verhindern.

Reiterharnisch Kurfürst Moritz' von Sachsen, um 1545. Quelle: wikicommons/User: Anthonyjonker23

Reiterharnisch Kurfürst Moritz‘ von Sachsen, um 1545. Quelle: wikicommons/User: Anthonyjonker23

Es sind vor allem solche Turnierrüstungen aus Spätmittelalter und Renaissance, die sich heute in zahlreichen Museen bewundern lassen. Ihr hohes Gewicht durch das schwere, dicke Material und die eingeschränkte Bewegungsfreiheit dürften zu dem verzerrten Bild beigetragen haben, das in der Öffentlichkeit von mittelalterlichen Plattenrüstungen existiert.
Doch bei diesen Exemplaren handelt es sich um hochspezialisierte Sonderanfertigungen für eine besondere, lebensgfährliche sportliche Disziplin. Sie haben nur wenig mit den älteren Rüstungen für den Kampf zu Pferd oder zu Fuß zu tun – das ist in etwa so, als würde man einen modernen Schützenpanzer mit einem SUV vergleichen.

Entstanden war die Plattenrüstung, indem ältere Formen der Körperpanzerung – wattierte Kleidungsstücke und Kettengeflecht – nach und nach durch eiserne Bestandteile ergänzt wurden: Zunächst im Brustbereich, dann auch an Armen, Beinen, Hüfte und Gelenken. Die Einzelteile wurden beweglich miteinander verbunden, um möglichst große Bewegungsfreiheit mit optimalem Schutz insbesondere gegen Stiche mit dem Schwert oder der Lanze zu kombinieren.
Die Ritter, die solche teuren und aufwändigen Panzerungen trugen, waren professionelle Krieger und im Gegensatz zu modernen Lesern und Fernsehzuschauern mit der Dynamik, den Bedingungen und Anforderungen eines Gefechts vertraut. Ein Kämpfer in einer steifen, schweren Hülle aus starkem Stahlblech mag in der Lage sein, den Einwirkungen der gegnerischen Waffen lange Zeit zu widerstehen. Doch um selbst aktiv mit Lanze oder Schwert angreifen zu können, müssen nicht nur die Arme über einen großen Bewegungsspielraum verfügen, sondern auch die Beine, denn ohne schnelle, flexibe Schrittarbeit sind wirkungsvolle Hiebe oder Stiche nicht auszuführen.

Ein hohes Gewicht der Panzerung schränkt zudem nicht nur die Beweglichkeit ein, sondern führt zudem zu schnellerer Ermüdung des Körpers. Ein vollständiger Plattenharnisch des Spätmittelalters brachte zwischen 20 und 30 Kilogramm auf die Waage, also deutlich weniger als die 30-40 kg, die etwa ein moderner US-amerikanischer Marineinfanterist als Kampfgepäck mit sich herumschleppt.
Dieses Gewicht lastete nicht nur auf den Schultern wie bei einem Rucksack, sondern verteilte sich über den gesamten Körper. An mehreren Stellen waren die Eisenteile mit der darunter getragenen Kleidung verbunden, so dass zum Beispiel jeder Arm nur etwa 2-3 kg zusätzlich zu bewegen hatte. Ein solches Gewicht lässt sich mit entsprechendem Training problemlos ohne nennenswerte Einschränkung der Bewegungsfreiheit oder -geschwindigkeit handhaben.
Plattenrüstungen waren Maßanfertigungen, die exakt an die Proportionen ihre Trägers angepasst wurden. Nur so war zu gewährleisten, dass die kritischen Partien etwa an Arm- und Beingelenken im Wortsinne reibungslos funktionieren konnten. Forscher des 19. Jahrhunderts, die sich in unangepasste historische Rüstungen zwängten und damit zu bewegen versuchten, konnten daher geradezu zwangsläufig nur zu dem Trugschluss gelangen, diese seien unbequem, schwer, steif und unbeweglich.

Spätmittelalterliche Fechtbücher zeigen den dynamischen Kampf in Plattenrüstung (Krakau, Biblioteka Jagiellońska, MS Germ.Quart.16, fol. 33r).

Spätmittelalterliche Fechtbücher zeigen den dynamischen Kampf in Plattenrüstung (Krakau, Biblioteka Jagiellońska, MS Germ.Quart.16, fol. 33r).

Moderne Experimente haben jedoch wiederholt deutlich gezeigt, dass die Agilität durch eine gut angepasste Plattenrüstung tatsächlich kaum eingeschränkt wird. Die Experimentatoren konnten darin laufen, tanzen, Leitern erklimmen, Purzelbäume schlagen, Liegestütze ausführen und problemlos aus einer liegenden Position aufstehen (vgl. z.B. dieses Video in der SWR-Mediathek).
Voraussetzung dafür, über einen längeren Zeitraum in Panzerung beweglich zu bleiben, ist allerdings neben der Passgenauigkeit ein entsprechendes Training, wie es für mittelalterliche Ritter fraglos vorausgesetzt werden kann. Der französische schweizer(!) Historiker Daniel Jaquet hat diesem Thema seine Dissertation gewidmet. In einem Buchbeitrag schreibt er über seine Erkenntnisse:

„Diese Experimente führen zu dem Schluss, dass die Beeinträchtigung des Harnischs auf das biomechanische Verhalten des Trägers tatsächlich relativ gering ausfällt. Einige Bewegungen sind eingeschränkt, aber sie beeinträchtigen die motorischen Fähigkeiten während des Kamfes nicht, wo sie ohnehin nicht hilfreich sind oder sogar zum Nachteil des Kämpfers ausfallen, indem sie eine Blöße bieten. […] Das Gewicht der Rüstung kann nicht verringert werden und stellt ein Hindernis dar, jedoch zugunsten eines hohen Schutzes. Es kann durch eine gute körperliche Verfasung und ein angemessenes Training abgemildert werden, was es erlaubt, ein kinästhetisches Gedächtnis und spezifische Muskulatur aufzubauen.“

(Daniel Jaquet, „Sich mit guter Körperrüstung und passenden Waffen zu wappnen“. Experimente zum Kampf in der Rüstung, in: Dierk Hagedorn und Bartłomiej Walczak, Gladiatoria, Herne 2015, S. 118-124; hier: S. 119f.)

Die gleichen Erfahrungen hatten bereits die Ritter im Mittelalter gemacht. Zugunsten eines verbesserten Schutzes von Leib und Leben nahmen sie Gewicht und leichte Einschränkungen gerne in Kauf. Die Kampfweise wurde an die geänderten Bedingungen angepasst, wie zahlreiche historische Fechtbücher zeigen, und die Behauptung, gerüstete Kämpfer wären ohne HIlfe nicht in der Lage gewesen, vom Boden aufzustehen oder auf das Pferd zu steigen, kann getrost ins Reich der Mittelalter-Mythen verwiesen werden.

UPDATE: Im Oktober 2016 hat der bereits zitierte Daniel Jaquet in voller Rüstung einen Hindernislauf gegen einen Soldaten und einen Feuerwehrmann absolviert. Das Video dazu war u.a. in der Ausstellung „Armatus Corpus“ im Militärmuseum in Morges zu sehen.

Buchempfehlung:

Hagedorn/Walczak: Gladiatoria. New Haven MS U860.F46 1450 Geb. mit Lesebändchen, 392 Seiten, 107 Farbabbildungen, zweisprachige Ausgabe dt./engl. Bibliothek der historischen Kampfkünste Band 4. € 44,80.

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5 Gedanken zu „Waren Ritter in Rüstung wirklich so unbeweglich?

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    • Nun, in der Regel werden nur die am besten erhaltenen Exemplare ausgestellt, und manche Prachtexemplare haben wohl tatsächlich nie ein Turnier oder einen Krieg erlebt. Zudem werden sie natürlich vor der Präsentation gereinigt und konserviert, und die meisten ausgestellten Rüstungen stammen ohnehin nicht aus Bodenfunden, sondern aus Zeughäusern, Privatbesitz etc., sind also meist über Generationen gepflegt worden.
      Es gibt aber auch Ausnahmen, z.B. den berühmten Brustpanzer aus dem Dreißigjährigen Krieg mit dem Einschussloch einer Kanonenkugel …

      • „.. geschag der grosse strit ze Switz und verlůren die herzogen gros folk ..“. Schlacht am Morgarten, 15. Nov. 1315. Wobei zu bemerken wäre, dass die Schweizer sich nicht so ritterlich verhalten haben (es war ein Hinterhalt auf das durchmarschierende Heer der Habsburger), aber im Ergebnis eindeutig: vielleicht die erste assymetrische Begegnung zwischen einem Bauernvolch und den nicht so tapferen Adeligen, deren Niedergang sich fortsetzte …..

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