War das Trinken von Wasser im Mittelalter tabu?

Selbst in eigentlich seriösen Publikationen zu Alltagsleben oder Ernährung im Mittelalter ist immer wieder zu lesen, aus Angst vor Krankheiten oder schlechten Einflüssen auf die Körpersäfte hätten die Menschen jener Zeit kein Wasser getrunken. Stattdessen seien Bier und Wein die alltäglichen Getränke gewesen, die sogar schon Kindern verabreicht wurden, wenn auch in verdünnter Form. (Es stellt sich die Frage: Womit verdünnt, wenn doch kein Wasser getrunken werden sollte?)
Der Mythos ist inzwischen so verbreitet, dass sich kaum jemand je die Mühe macht, ihn anhand von Quellen zu belegen. Der Grund dafür ist simpel: Ein solcher Beweis wäre unmöglich, entsprechende Belege existieren nicht. Die Behauptung, im Mittelalter hätten die Menschen kein Wasser getrunken, beruht auf mangelnder Kenntnis der schriftlichen Überlieferung bzw. deren Missinterpretation und ist inzwischen zu einem Selbstläufer geworden, einer vermeintlichen Gewissheit, die selbst von renommierten Forschern nicht mehr hinterfragt wird. In den Worten des Historikers Ernst Schubert:

„Fiktionen können geschichtsmächtiger als Fakten sein.“

Tatsächlich finden sich in spätantiken und mittelalterlichen Quellen durchaus Hinweise auf den Konsum von Wasser, doch sie sind weit verstreut und längst nicht so verbreitet wie Angaben zum Genuss von Bier oder Wein. Der Grund dafür ist jedoch nicht in einer Verachtung des Wassers als Getränk zu suchen. Im Gegenteil: Das Trinken von Wasser war so normal, alltäglich und verbreitet, dass es kaum der Erwähnung wert war. Während Wein und Bier über weite Entfernungen gehandelt, ihre Herstellung obrigkeitlich geregelt und ihr Verkauf besteuert wurde, war das beim Trinkwasser nicht der Fall. Wenn alkoholhaltige Getränke vielfach als Teil des Naturallohns etwa von Bauarbeitern erwähnt werden, bedeutet dies keineswegs, dass sie Wasser als Alltagsgetränk vollständig ersetzt haben müssen – sie dienten vielmehr als nahrhafte Ergänzung, die der Kräftigung des Körpers, nicht dem Löschen von Durst dienen sollten.

Trinken von Quellwasser. Tacuinum sanitatis, ca. 1390-1400. (Paris, BNF NAL 1673, fol. 96r.)

Trinken von Quellwasser. Tacuinum sanitatis, ca. 1390-1400. (Paris, BNF NAL 1673, fol. 96r.)

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