„Ich habe hier eine alte Urkunde/Briefe meiner Urgroßmutter/historische Dokumente aus dem 16./17./18./19. Jahrhundert, aber ich kann sie nicht lesen, denn sie sind in Sütterlin geschrieben …“
Mit Anfragen solcher Art werde ich recht häufig konfrontiert. Und auch ohne die fraglichen Texte gesehen zu haben, kann ich jedes Mal von vornherein mit Sicherheit ausschließen, dass sie tatsächlich in Sütterlinschrift abgefasst sind.
Denn diese Zuschreibung beruht auf einem weit verbreiteten Missverständnis.
Ludwig Sütterlin (1865-1917)
Ludwig Sütterlin wurde am 15. Juli 1865 – also heute vor 150 Jahren – in Lahr im Schwarzwald geboren. Als Grafiker, Buch- und Schriftgestalter, Kunstgewerbler und Pädagoge schuf er zahlreiche Plakate, Firmenlogos und unterrichtete an der Preußischen Kunstgewerbeschule in Berlin.
Im Auftrag des Preußischen Kulturministeriums entwickelte er 1911 eine deutsche und später auch eine lateinische Ausgangsschrift, die im Schreibunterricht an preußischen Schulen Verwendung finden sollte. Diese wurde 1915 offiziell eingeführt und blieb bis zum sogenannten Normalschrifterlass der Nazis 1941 in Gebrauch.
Die sogenannte Sütterlinschrift war also eine künstliche Schöpfung des frühen 20. Jahrhunderts, wurde lediglich 26 Jahre lang unterrichtet, und bis in die 1920er Jahre hinein sogar ausschließlich in Preußen!
Was sind das dann für komische Zeichen?
Ludwig Sütterlin schuf seine Schrift nicht ex nihilo, sondern bediente sich bei den bislang gebräuchlichen Buchstabenformen. Um den Kindern das Lernen zu erleichtern, vereinfachte er deren Formen und rundete sie, um das Schreiben in einem flüssige Zug zu ermöglichen.
Die vom 16. Jahrhundert bis zur Reform Sütterlins in Deutschland gebräuchlichen Schreibschriften werden meist mit dem Sammelbegriff Deutsche Schrift bezeichnet. Unterschieden wird in der Regel zwischen Kanzleischriften für offizielle Dokumente und Kurrentschriften als flüssigere, weniger formale Formen.
Typographisch zählen die Deutschen Schriften zu den gebrochenen Schriften, die historisch auf die gotischen Schriften seit dem 13. Jahrhundert zurückzuführen sind (Gotische Minuskel, Textura, Rotunda). Die gebrochenen Schriften werden im Allgemeinen gerne kollektiv als „Fraktur“ bezeichnet, bei der es sich jedoch streng genommen nur um eine vom 16. bis zum 20. Jahrhundert verwendete Druckschrift handelt.
Das charakteristische Merkmal, das den gebrochenen Schriften ihren Namen gab, ist der wiederholte abrupte Richtungswechsel beim Schreiben. Im Gegensatz zu den lateinischen Schriften wie der Antiqua, die sich rund und flüssig schreiben lassen, weisen die Buchstaben der gebrochenen Schriften einen oder mehrere „Knicke“ auf. Gerade diese wurden jedoch von Sütterlin in seiner Neuschöpfung geglättet und so dem im Ausland üblichen Schreibmodus angepasst, wobei jedoch etliche Buchstaben ihre historisch gewachsene, von ihren zeitgenössischen z.B. englischen, französischen oder italienischen Äquivalenten unterschiedenen Formen mehr oder weniger beibehielten.
Und heute?
Aus der Sütterlinschrift wurde nach 1941 zunächst die sogenannte Deutsche Normalschrift entwickelt, aus dieser dann nach dem Krieg die Lateinische Ausgangsschrift (BRD) bzw. die Schulausgangsschrift (DDR). Heute werden in den Bundesländern unterschiedliche Ausgangsschriften unterrichtet, während in einigen anderen Staaten die Schreibschrift im Schulunterricht bereits vollkommen abgeschafft wurde oder abgeschafft werden soll.
Dann werden noch weniger Menschen in der Lage sein, historische Handschriften zu entziffern. Aber das übernehme ich ja gerne für Sie …
Im Deutschbuch der Grundschule in Niedersachsen lernen die Kinder sowohl historische Schriften als auch Texte mit „alten“ Wörtern. Es ist nicht wirklich viel, aber die Kids finden es interessant. Und sie schreiben -hier zumindest- in Schreibschrift. Mein Sohn (10) fand beim Nürnberger Christkindlsmarkt den Stiftemacher am interessantesten. Kinder beschäftigen sich eigentlich sehr gerne mit der Vergangenheit. Sie regt ihre Fantasie schön an. Könnte mir da glatt noch eine Marktlücke als Schriftlehrer auf Mittelalterfesten u.ä. vorstellen 😉
Das stimmt, Kinder haben oft einen ganz intuitiven, spontanen Zugang zu Geschichte und entwickeln Interesse an der Vergangenheit – das wird ihnen aber an der Schule meist recht schnell wieder ausgetrieben.
Scheiber sind auf Museumsfesten etc. immer eine Attraktion, aber Geld lässt sich damit leider nicht verdienen. Auch vom Entziffern alter Handschriften wird man leider nicht reich …
Ich habe eine altes Schriftstück kann mir jemand was darüber sagen
Senden Sie gerne ein qualitativ hochwertiges Foto oder einen Scan des Dokuments an info[at]histofakt.de.