Die Zeit um 1500 war eine Phase des Übergangs in vielen Bereichen: Das Entstehen der Nationalstaaten, die Entdeckung Amerikas und anderer Weltregionen, Verbreitung des Buchdrucks und der Universitäten, die Reformation, neue Strömungen in Pilosophie, Kunst, Architektur, Literatur und Musik, das Aufkommen der immer effektiveren Feuerwaffen und viele weitere Entwicklungen rechtfertigen es, von einem Epochenwechsel zu sprechen.
Im Gefolge dieser Umwälzungen – oder als ihr Wegbereiter? – entstanden ein neues Welt- und Menschenbild, ein verändertes Verständnis von Natur und Universum, die westliches Denken und Wissenschaft noch heute beeinflussen.
Allerdings erfolgten all diese Veränderungen nicht von heute auf morgen, nicht einmal innerhalb einer Generation, und viele Aspekte des Lebens blieben noch lange Zeit unberührt. Altes und Neues existierte nebeneinander, etwa im Bereich des Handwerks, der Volksfrömmigkeit oder der Mode. Die Geschichtswissenschaft konzentriert sich bei der Erfoschung dieser Phänomene gerne auf politische und wirtschaftliche Zentren wie Köln, Frankfurt am Main, Nürnberg und andere Großstädte, die naturgemäß eine Vorreiterrolle spielten und zudem meist mit einer guten Quellenlage aufwarten können.
Doch wie und in welchem Maße wirkten sich diese Umwälzungen auf das Leben, den Alltag der Menschen z.B. in kleineren Städten aus? Am Beispiel Brettens will der vorliegende Sammelband Antworten liefern, wird seinem Anspruch jedoch nur teilweise gerecht.
Knapp, aber präzise beschreibt Peter Bahn in seinem einleitenden Aufsatz das mittelalterliche Weltbild und die Veränderungen, die um 1500 die alte Ordnung erschütterten. Kurz geht er dabei auch auf die Auswirkungen der globalen Entwicklungen auf die kleine Handels- und Amtsstadt Bretten ein.
Die Geburtstadt Philipp Melanchthons im Kraichgau war im 15. Jahrhundert ein Oberzentrum, strategisch günstig am Schnittpunkt mehrerer bedeutender Handelswege gelegen, wirtschaftlich und politisch also keineswegs unbedeutend, was sich etwa im bereits 1148 erwähnten Markt- und Münzrecht, der durchaus modernen Stadbefestigung, dem repräsentativen Rathaus und verschiedenen anderen Faktoren niederschlug. Stadtbild und Ökonomie „Zwischen Hauswirtschaft und Fernhandel“ werden in zwei Beiträgen anschaulich beschrieben.
Es folgen mehrere Beiträge über Frauenbild und -rollen, heillkundige Frauen und Hebammen sowie Prostitution im Mittelalter. Alle fassen ihren jeweiligen Gegenstand kenntnisreich und unterhaltsam zusammen, bleiben dabei jedoch eher allgemein. Gerade beim Thema Frauenhäuser und Dirnenwesen hätte sich der Rezensent einen erkennbaren Lokalbezug gewünscht.
Gleiches gilt für die Darstellung der wirtschaftlichen Leistungen mittelalterlicher Klöster und Orden oder die Ausführungen zu Festen, Musik und Tanz. Zwar werden z.B. mittelalterliche Fatsnachtsbräuche recht detailliert beschrieben, doch wie es während der „fünften Jahreszeit“ in Bretten zugegangen ist, erfährt man leider nicht.
Auch das Selbstverständnis und das gesellschaftliche Ansehen des Künstlers wandelte sich am Übergang vom Spätmittelalter zur Renaissance. Der mit vielen Zitaten angereicherte Aufsatz zum Thema beschränkt sich jedoch leider ausschließlich auf die Verhältnisse in Italien. Auch hier ließen sich interessante Fragen anschließen: Wann wurden diese Veränderungen in Deutschland spürbar? Welche Auswirkungen hatten sie z.B. auf das strenge hiesige Zunftwesen?
Leider bleibt der Autor die Antworten schuldig, bietet aber immerhin Anreiz zu eigenen Nachforschungen.
Dass Stifter zumindest in der süddeutschen Wandmalerei des Spätmittelalters noch eine größere Rolle spielten als die ausführenden Künstler, ist an einem kunsthistorischen Beitrag über entsprechende Werke mehrerer Kirchen und Kapellen im Kraichgau ablesbar: Letztere blieben nämlich namenlos. Geradezu erstaunlich wirken jedoch die von ihnen geschaffenen komplexen Bildprogramme, die nun gerade nicht in den Kathedralen und Hauptkirchen, sondern überweiegend vergleichsweise kleinen und „provinziellen“ Gotteshäusern bzw. an unerwarteten Stellen zu finden sind.
Der Themenbereich der Kleidung wird in zwei ganz unterschiedlichen Aufsätzen aufgegriffen: Matthias Goll schildert in aller gebotenen Kürze die Veränderungen, welche die Körperrüstung aus Metall vom 14. bis zum 16. Jahrhundert erlebte, um abschließend auf deren künstlerische Darstellung bei der Belagerung Brettens 1504 einzugehen.
Peter Bahn hingegen widmet sich der Ehrenrettung eines heute vielfach verpönten Kleidungsstücks, dem Kopftuch. Was heute gerne als Symbol patriarchalischer oder religiöser Unterdrückung gewertet wird, galt im Mittelalter und noch bis ins 20. Jahrhundert als Ausweis ehrbarer, fleißiger Frauen und wurden sogar mit magisch-religiösen Praktiken in Verbindung gebracht.
Alle Autoren weisen umfangreiche Kenntnisse über ihren jeweiligen Gegenstand auf und vermitteln diese anschaulich und unterhaltsam. So sind die überwiegend zehn oder weniger Seiten umfassenden Beiträgen leicht zu lesen, bieten aber dennoch geballte Informationen und eignen sich gut zur ersten Beschäftigung mit der spanennden Zeit um das Jahr 1500.
Positiv hervorzuheben ist die mit 250 Bildern sehr ausgiebige Illustration des Bandes. Alle Abbildungen sind von erstklassiger Qualität und mit eindeutigen Quellenangaben versehen. Im Anhang findet sich außerdem ein Literaturverzeichnis, das im Gegensatz dazu jedoch leider sehr knapp ausgefallen ist. Hier wären einige weiterführende Titel sowie wiederum solche mit stärkerem Lokalbezug wünschenswert gewesen.
Als Fazit lässt sich festhalten, dass der mit knapp 20,- Euro angesichts der Bildfülle günstig kalkulierte Brettener Sammelband eine lohnende Investition darstellt, wenn man sich mit dem Übergang von Spätmittelalter zu früher Neuzeit einmal nicht auf dem Gebiet der großen globalen Umwälzungen, sondern dem Alltags- und Geschäftsleben, dem Wirtschaften und Arbeiten, Glauben, Feiern und auch Leiden der Menschen beschäftigen möchte.
Inhalt:
Um 1500: Ein Weltbild zerbricht.
Eine Stadt im späten Mittelalter – Bretten um 1500
Zwischen Hauswirtschaft und Fernhandel
Frauen im Mittelalter – Wandel und Konstanten
Frauenbild und Frauenrolle im Übergang vom Mittelalter zur frühen Neuzeit
Frauen in der Medizin: Weise Frauen, Kräuterweiber
Dirnen, Frauenhaus, freie Prostitution im Spätmittelalter
Ein ehrbares abendländisches Kleidungsstück: das Kopftuch
Zwischen Fest und Fasten
Spielmann und das Lumpenpack pfeifen meist aus einem Sack
Wirtschaftliche Betätigung der Klöster und Orden
artifex – artista. Vom meisterlichen Handwerker zum Künstler
Randschlag, Bosse, Ehrenzeichen: Steine prägen Gebäude
Wandmalerei im Kraichgau
Die stählerne Kleidermode an der Zeitenwende
Autoren:
Peter Bahn, Doris Frisch, Judith Fritz, Hermann Fülberth, Matthias Goll, Manfred Klöpfer, Frank Merkel, Heiko P. Wacker, Bernhard Wendel und Malte Zürn
Erschienen 2016 im Infoverlag Bretten (Lindemanns Bibliothek 277). Broschiert, 200 S., über 250 Abb. ISBN 978-3-81190-936-5. € 19,80.