Während die Armbrust in Mittelalter und Renaissance in den meisten Ländern Europas den Bogen als beliebteste Fernwaffe verdrängte, präsentiert sich die Situation heutzutage genau umgekehrt: Im Vergleich zum seit Jahren unverändert beliebten traditionellen Bogenschießen stellt die Beschäftigung mit der historischen Armbrust allenfalls eine Randerscheinung dar. Die Anzahl internationaler Experten zum Thema ist überschaubar, doch sind diese untereinander hervorragend vernetzt und leisten erstaunliche Arbeit, wenngleich diese von Außenstehenden nur selten wahrgenommen wird.
Eine wichtige Rolle in der Vernetzung, der Erforschung und Verbreitung des Wissens über historische Armbruste sowie deren Rekonstruktion und Erprobung spielt dabei seit Jahren die Interessengemeinschaft historische Armbrust, die jedes Jahr einen Sammelband aktueller Aufsätze herausgibt. Seit seinem ersten Erscheinen 2004 hat sich dieses „Jahrblatt“ zu einer internationalen Institution entwickelt. Wohl keine andere Publikation vereinigt Jahr für Jahr eine vergleichbare Anzahl hochwertiger Beiträge der namhaftesten Experten aus aller Welt. Die aktuelle Ausgabe bildet hier keine Ausnahme.
Die Autorenliste liest sich wie ein who is who der internationalen Armbrustforschung, und die Themenauswahl deckt ein gewohnt breites Spektrum ab.
Fabian Brenker, der seine Dissertation zum Thema „Die Armbrust im Hochmittelalter“ verfasst hat, widmet sich eingangs der Entwicklung und Herstellung von Abzugsstangen aus Geweih. Sein zugleich historisch-akademischer und experimentell-praktischer Zugang kann dabei als typisch für die Arbeit der Interessengemeinschaft angesehen werden.
Als „Maschinengewehr des Mittelalters“ wird eine besondere Schießschartenanlage der Burg Caernafon in Wales bezeichnet, die Rüdiger Bernges als Ausgangspunkt einer kurzen Betrachtung baulicher Maßnahmen zum Einsatz von Armbrusten in der Burgverteidigung dient.
Andreas Bichler, einer der renommiertesten Armbrustbauer der Gegenwart, berichtet von Erfahrungen beim Bau einer Armbrust mit Hornbogen und anschließenden Schussversuchen. Durch den praktischen Ansatz, wie er von vielen Autoren des Jahrblatts praktiziert wird, lassen sich wertvolle Daten und Erkenntnisse gewinnen, um theoretische Überlegungen zu ergänzen, zu bestätigen oder zu korrigieren.
Auf dem afrikanischen Kontinent sind Armbruste eher seltene Erscheinungen. Der französische Ethnologe Alain Sunyol stellt in englischer Sprache einige Exemplare und historische Quellen dazu vor.
Ebenfalls auf Englisch erläutert Patrik Hjertenblom die Bestimmung des optimalen Balancepunkts bei Armbrustbolzen.
Jens Sensfelder, Gründer der Interessengemeinschaft und Herausgeber des Jahrblatts, stellt das Museum der Renaissance in Paris vor und setzt außerdem seine ausführliche Darstellung einer belgischen Privatsammlung mit der Beschreibung einer Vielzahl von Pistolenarmbrusten fort (auf Englisch).
Einen Mehrlade-Kugelschnepper aus Hannover und dessen Funktionsweise beschreibt Holger Richter. Vom selben Autor stammt außerdem ein Beitrag über eine Sammlung von faszinierend detaillierten Skizzen des 17. Jahrhunderts, auf denen Details einer Armbrustmacherwerkstatt dargestellt werden. Desweiteren widmet sich Richter dem Schnepperschießen anlässlich eines Besuchs Augusts des Starken in Potsdam sowie einer Gruppe von Armbrusten des 18. Jahrhunderts mit einem speziellen Dekor: Es handelt sich um ein filigranes Gittermuster in Einlegearbeit aus poliertem Hirschgeweih, angefertigt (zumindest teilweise) vermutlich von Angehörigen der berühmten Armbruster-Familie Hänisch aus Dresden.
Die sogenannte Bollinger-Armbrust war eine Sportwaffe, die zwischen 1870 und 1970 in großer Zahl und verschiedenen Varianten hergestellt wurde. Jürg A. Meier spürt ihrer Geschichte und der ihres Namensgebers, des Schweizer Obersts Heinrich Bollinger nach.
Die „Fachnotizen“ versammeln kürzere Meldungen, Informationen und Abbildungen, etwa den Querschnitt eines Hornbogens im Pitt Rivers Museum Oxford, mittelalterliche Armbrustgeschichten, Darstellungen von Winden und Spannbänken aus einer spätmittelalterlichen Handschrift und vieles mehr.
Die 128 Seiten des Jahrblatts 2017 bieten somit wieder einmal reichlich Lesestoff und Anregungen für Armbrustschützen, Bogner und historisch interessierte Leser. Im Vergleich zu früheren Ausgaben finden sich dieses Mal weniger technisch und mehr historisch-ethnologisch orientierte Aufsätze. Alle Beiträge sind reichhaltig und überwiegend farbig illustriert.
Norderstedt: Books on Demand 2017. 128 S., zahlr. Abb. ISBN 978-3-743177-57-4. € 24,80.
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Mir ist die Bezeichnung „Jahrblatt“ bislang auch in keinem anderen Kontext untergekommen, was den Vorteil hat, mit diesem Suchbegriff immer gleich die richtige Publikaiton zu finden …
Es ist immer wieder Faszinierend mit was für spartenthemen Menschen sich ausseinander setzen. Ich mag Historiker*innen und Geschichtsfans genau deswegen. Weil sie leidenschaften für die skurilsten Dinge haben. Leidenschaft, dass macht das Leben erst so richtig lebenswert.
Ich finde es super, dass es diese Arbeit gibt. Danke für den Tipp. Wer weiß vielleicht brauche ich irgendwann ganz dringend das Wissen über Armbrusttypen.
LG
Miss Jones