In den sozialen Netzwerken macht derzeit folgendes, mehr als 10 Millionen mal angesehenes (Stand: 25. Januar 2015) Video eines gewissen Lars Andersen die Runde, der sich nicht nur rühmt, mit gängigen Hollywood-Mythen und -Klischees über Pfeil und Bogen aufzuräumen, sondern auch die authentischen, historischen Praktiken des militärischen Bogenschießens wiederentdeckt, studiert und schließlich gemeistert, wenn nicht gar übertroffen zu haben:
Die im Video gezeigten Fähigkeiten und Leistungen sind ohne Frage beeindruckend, das Ergebnis jahrelangen Trainings, selbst wenn man dem Schützen ein außergewöhnliches angeborenes Talent unterstellen will. Sie fallen jedoch überwiegend in die Kategorie „Trick“ oder „Show“ und haben mit tatsächlichen historischen Praktiken wenig bis gar nichts zu tun.
„Vergessen“ waren die meisten Quellen, auf die er sich bezieht, und viele der erwähnten Techniken und Ansichten übrigens nicht. Sie entstammen nur überwiegend anderen Kulturkreisen sowie spezifischen historischen Kontexten und wurden in Europa daher nicht praktiziert – wohl aber rezipiert, wie Herr Andersen wissen könnte, wenn er sich die Mühe gemacht hätte, gründlich zu recherchieren und z.B. Veröffentlichungen von Klopsteg, Hein, McEwen, Dwyer, Khorasani, Loades und vielen anderen zu konsultieren.
Aber zum Inhalt.
Andersen hat vollkommen recht, wenn er den bei modernen Schützen und in Hollywood-Filmen so beliebten Rückenköcher als unpraktisch und unhistorisch bezeichnet. Für seine Verwendung in Europa und den meisten anderen Kulturen in Antike und Mittelalter gibt es praktisch keine Belege, und das im Video gezeigte Problem ist nur eines von vielen, die gegen seine Benutzung auf dem Schlachtfeld oder bei der Jagd sprechen. (Was übrigens bei Bogenschützen außerhalb Hollywoods allgemein bekannt sein dürfte.)
Allerdings existieren zahlreiche Belege für andere Methoden für die Aufbewahrung und den Transport von Pfeilen in historischen Zeiten. Die Praxis, Pfeile in der Bogen- oder der Zughand zu halten, war hingegen keineswegs universell, sondern ist nur für bestimmte (östliche) Kulturen zweifelsfrei überliefert, so etwa bei einigen (längst nicht allen) Reitervölkern, bei den Osmanen oder in Japan.
Im europäischen Mittelalter wurden Kontingente von Bogenschützen in der Regel auf statischen Positionen eingesetzt, es bestand also gar nicht die Notwendigkeit, große Mengen an Pfeilen „am Mann“ zu haben, sondern sie konnten z.B. auch in den Boden gesteckt werden. Bei Pfeilen, die in der Zughand gehalten werden, besteht immer die Gefahr, sie zu verlieren und dann ohne Munition dazustehen, was in einer Kampfsituation wenig empfehlenswert erscheint.
Die Behauptung, Bogenschützen hätten früher den Pfeil stets auf dern anderen, also der Außenseite des Bogens aufgelegt, ist ebenfalls so nicht haltbar. Die Praxis ist für bestimmte Völker und Kulturen zwar ebenfalls zweifelsfrei belegt – vorwiegend für solche, die sich des Daumengriffs bedienten, etwa Mongolen, Koreaner, Japaner, Osmanen etc. –, aber insbesondere im Westen sprechen die historischen Bildzeugnisse eine andere Sprache. Pfeile werden hier wahlweise auf der einen oder der anderen Seite des Bogens anliegend dargestellt, was im Einzelfall nicht selten der Unkenntnis des Künstlers oder dem Wunsch, den Schaft auf der dem Betrachter zugewandten Seite zu zeigen zugeschrieben werden kann.
Dass die Pfeile von Rechtshandschützen schon früher auf der linken Bogenseite angelegt wurden, beweisen nicht zuletzt sogenannte „peck marks“ wie auf den englischen Langbögen von der Mary Rose (1545) sowie Abnutzungsspuren bei zahlreichen weiteren historischen Bogenfunden.
Die Behauptung, diese Praxis hinge damit zusammen, dass moderne Schützen mit nur einem Auge über den Schaft das Ziel anvisieren, ist unsinnig. Erstens sprechen die genannten historischen Belege dagegen, zweitens zielen auch moderne Schützen in der Regel mit beiden Augen, wenn sie sich nicht einer optischen Zielvorrichtung bedienen. Nur mit beiden Augen ist dreidimensionales Sehen möglich, lassen sich also Entfernungen abschätzen. Der auf der Inennseite des Bogens liegende Pfeil verhindert dabei, das der Bogen das Sichtfeld stört.
Hinzu kommt, dass beim in Europa fast ausschließlich praktizierten „mediterranen“ Fassen der Sehne mit zwei oder drei Fingern diese unweigerlich dazu neigt, sich (bei Rechtshändern) nach rechts einzudrehen. Liegt der Pfeil links vom Bogen, ist das nicht weiter tragisch, liegt er aber auf der anderen Seite, kann er dadurch von der Bogenhand fallen.
Die Behauptung, historische Ziele seien stets dreidimensional gewesen, während sie heute nur noch zweidimensional sind, ist gleich zweifacher Unsinn. Zum Einen sind auch aus historischen Zeiten zweidimensionale Ziele belegt, vom englischen shooting at the butts oder splitting the wand und dem französischen Beursault bis zu zahlreichen weiteren Beispielen aus verschiedenen Kulturen und Zeiten.
Zum Anderen gibt es noch heute dreidimensionale Ziele und sogar eine ganze Disziplin, die sich nicht zufällig „3D-Schießen“ nennt.
Einen „gegnerischen“ Pfeil im Flug abzuschießen ist ohne Frage eine enorme Leistung – ergibt aber in einem militärischen Kontext keinerlei Sinn. Sollte der Versuch scheitern, wird der Schütze aller Wahrscheinlichkeit nach getroffen. Selbst wenn der herannahende Pfeil getroffen wird, können herumfliegende Splitter noch immer Schaden bei Umstehenden anrichten. In jedem Fall aber wird ein wertvoller Pfeil für ein Kunststück vergeudet, der eigentlich dem Feind und nicht seinen Geschossen gelten sollte.
Wenn die Zeit ausreicht, um einen herannahenden Pfeil zu erkennen und abzuschießen, dann ist sie allemal ausreichend, um davor in Deckung zu gehen und so dem Beschuss auszuweichen, ohne eigene Munition zu verschwenden.
Die von Andersen gewonnene Erkenntnis, dass beim Bogenschießen mit beiden Armen gearbeitet werden sollte, also die eine Hand den Bogen im gleichen Maße aktiv nach vorne drück, während die andere die Sehne nach hinten zieht – von ihm als „double draw“ bezeichnet –, ist alles andere als eine Offenbarung. Tatsächlich wird diese sogenannte „Push and Pull„-Methode in jeder guten Schule des (traditionellen) Bogenschießens vermittelt, schon weil sie einer einseitigen Belastung und damit Haltungsfehlern sowie Schäden an Muskeln, Sehnen und Knorpeln vorbeugt. Bei besonders zugstarken Bögen ist der aktive Einsatz des Bogenarms ohnehin unerlässlich.
Und damit bin ich bei meinem schwerwiegendsten Kritikpunkt an Andersens Video und den von ihm gezeigten Kunststücken angelangt: Seine Behauptung, historische Praktiken „wiederentdeckt“ und umgesetzt zu haben, wird durch die Verwendung eines schwachen, glasfaserbelegten Bogens und leichter Carbonpfeile mit Scheibenspitzen geradezu konterkariert. Der im Video verwendete kurze Recurvebogen dürfte kaum mehr als 25-30, möglicherweise auch 35 lb. Zuggewicht aufweisen und damit weniger als die Hälfte dessen, was als absolutes Minimum (!) für Kriegsbögen aller Zeiten und Kulturen anzusetzen ist.
Zudem ist in vielen Sequenzen zu sehen, dass der Bogen nicht einmal ansatzweise in den vollen Auszug gebracht, sondern die Sehne vielleicht gerade mal 15-20 Zoll weit ausgezogen wird, wodurch dich die gespeicherte Energie natürlich noch weiter reduziert. (Zu diesem Thema hat sich bereits Matt Easton von der Schola Gladiatoria in einem Video geäußert.)
Wie Andersens Video eindrucksvoll demonstriert, ist es mit hinreichender Übung möglich, auch mit solch „fehlerhaftem“ Auszug ein Ziel zu treffen. Beim militärischen Bogenschießen kam es jedoch nicht nur auf Zielgenauigkeit und Geschwindigkeit an, sondern mindestens ebenso sehr auf die Durchschlagskraft des Pfeils. Während diese beim heutigen Scheiben- und 3D-Schießen ein zu vernachlässigender Faktor ist, war er auf antiken und mittelalterlichen Schlachtfeldern von absolut (kampf-) entscheidender Bedeutung.
Die Durchschlagskraft ist von der Geschwindigkeit und dem Gewicht des Pfeils abhängig. Die Kriegspfeile der meisten historischen Kulturen verfügten über solide Eisenspitzen und waren insgesamt deutlich schwerer, als es bei heutigen Sportpfeilen der Fall (oder erforderlich) ist. Entsprechend wurden auch stärkere Bögen benötigt, um die Geschosse mit hinreichender Energie über die erforderliche Distanz zu befördern und ggf. weiche Polsterung und/oder harte Panzerung zu durchdringen. Dieses Zuggewicht wurde nur im oder zumindest bei annäherndem Vollauszug erreicht.
Anzumerken ist weiterhin, dass die Entfernungen beim Bogenschießen auf dem Schlachtfeld erheblich größer waren, als die von Andersen geschossenen Distanzen. Je schwächer der Bogen, desto steiler der Winkel, in dem der Pfeil abgeschossen werden musste, um hinreichend weit zu fliegen, was genaues Zielen erschwert bzw. unmöglich macht. Stärkere Bögen ermöglichen eine flachere Flugbahn, so dass auch auf weitere Entfernung gezielt geschossen werden konnte.
Als Fazit bleibt also nur zu sagen, dass die von Lars Andersen in seinem Video gezeigten Kunststücke zwar ohne Frage beeindruckende Leistungen darstellen, mit tatsächlichen historischen Praktiken jedoch praktisch nichts gemeinsam haben.
Besonders ärgerlich daran ist jedoch die Selbstherrlichkeit und Vermessenheit, mit der dieser selbsternannte Experte die Forschungen und Erkenntnisse von Historikern, Archäologen und Bogenschützen der vergangenen einhundert und mehr Jahre ignoriert und für sich selbst in Anspruch nimmt, als Erster und Einziger die „wahren“ historischen Praktiken des militärischen Bogenschießens erkannt und rekonstruiert zu haben. Dass er selbst kein Interesse an einem fachlichen Austausch hat und keine Kritik an seiner Theroie und Praxis duldet, wird nicht zuletzt darin deutlich, dass er in der Beschreibung seines Videos ankündigt, Kommentare von „archery experts“ zu löschen. Eine solche Haltung zeugt, wie auch der gesamte Tenor seines Videos, von Ignoranz, Arroganz, Unwissenschaftlichkeit und überaus schlechtem Stil.
Auf seiner Facebook-Seite hat sich auch der britische Experte Mike Loades zu Andersens Video geäußert, eine fundierte Abrechnung findet sich außerdem auf GeekDad (und in zahlreichen Bogeschützen-Foren, Facebook-Kommentaren etc.).
Zum Training (englischer) Bogenschützen des Mittelalters habe ich bereits vor einiger Zeit einen kurzen Beitrag im Blog veröffentlicht.