„Seeräuber und Krieger im Licht der Archäologie“
Nicht zuletzt dank populärer Darstellungen wie z.B. in der erfolgreichen Fernsehserie „Vikings“ erfreuen sich die Wikinger anhaltenden öffentlichen Interesses. Im Zuge dieser Aufmerksamkeit, weiterhin befeuert durch einige z.T. spektakuläre archäologische Neufunde, sind in den vergangenen Jahren auch zahlreiche populärwissenschaftliche Sachbücher über die frühmittelalterlichen Krieger und Seefahrer aus Skandinavien erschienen.
Hier reiht sich nun auch das vorliegende Werk, ein Sonderband der Zeitschrift „Archäologie in Deutschland“ ein, was die Fragen aufwirft: Braucht es eine weitere Neuerscheinung zum Thema? Und: Kann der Band neue Erkenntnisse liefern?
Schon beim ersten Durchblättern fällt auf, dass das reich illustrierte Werk nicht (nur) auf die gleichen, immer wieder gern genutzten Abbildungen bekannter Funde zurückgreift, sondern auf ein breites Spektrum an Objekten und Motiven, darunter auch zahlreiche Neufunde, grafische Rekonstruktionen z.B. von Grablegen, archäologische Befunde und zeitgenössische Abbildungen. Rein grafisch hat der Band also auf jeden Fall allerhand Neues zu bieten.
Dem eigenen Anspruch nach soll jedoch die vielschichtige Kultur der Wikinger aus dem Blickwinkel der Archäologie erfasst, dargestellt und neu bewertet werden, um die bislang häufig praktizierte Fokussierung auf Plünderungen und Raubzüge zu erweitern und „Mythen durch Fakten [zu] ersetzen“.
In seiner Einleitung bemängelt Herausgeber Matthias S. Toplak zu Recht, dass eine solche Einengung der Perspektive und eine Reduzierung der Wikinger auf wilde Krieger, Plünderer und Barbaren zum Einen auf der schriftlichen Überlieferung von Zeitgenossen, überwiegend christlichen Mönchen basiert, die vielfach sehr unkritisch reproduziert wurde. Zum Anderen blendet sie zahlreiche wichtige Aspekte aus und lässt z.B. außer Acht, dass ein Großteil der wikingerzeitlichen Bevölkerung Skandinaviens niemals an solchen Plünder- und Eroberungsfahrten teilnahm, sondern ein mehr oder weniger friedliches Leben als Bauern, Handwerker oder Fischer führte.
Zwar ist diese Kritik durchaus gerechtfertigt, doch auch der vorliegende Band beruft sich im Untertitel auf die „Seeräuber und Krieger“ und versäumt es leider, näher auf Aspekte wikingerzeitlichen Lebens wie Bekleidung, Ernährung, Architektur, Handwerk u.ä. einzugehen.
Kampf, Waffen und Gewalt stehen daher im Mittelpunkt der Ausführungen, werden allerdings aus zahlreichen verschiedenen Perspektiven betrachtet, die man in anderen Publikationen in der Regel nicht findet. So nimmt etwa die Frage breiten Raum ein, welche Funktionen Waffen, insbesondere Schwertern, neben ihrer offensichtlichen Aufgabe der Gewaltanwendung noch zugewiesen wurden, etwa als Symbole von Status und Macht. So lassen z.B. Waffen als Grabbeigaben keineswegs automatisch darauf schließen, dass der Verstorbene ein Leben als Krieger geführt hat. In diesem Zuge werden auch die mit Waffen ausgestatteten Frauengräber wie das viel diskutierte Beispiel aus Birka neu bewertet.
Auch in Religion und Mythos der Wikinger spielten Kampf, Waffen und Gewalt eine bedeutende Rolle, die Geschichten der Götter und Helden dienten nicht zuletzt dazu, die reale Gewalt im Alltag zu legitimieren und zu kodifizieren. In diesem Zusammenhang werden u.a. Menschenopfer, (bewaffnete) weibliche Sagengestalten oder Schutz- und Kampfzauber einer kritischen Betrachtung unterzogen.
Weitere Beiträge befassen sich mit der Gesetzgebung, den Text- und Bildprogrammen der sogenannten Runensteine, der Sklaverei oder der Kindheit, die vielfach von einer Gewöhnung an alltägliche Gewaltanwendung geprägt war. Aus Mangel an archäologischen Zeugnissen dienen hier in erster Linie die Saga-Literatur, Augenzeugenberichte, Chroniken und andere zeitgenössische Aufzeichnungen als Quellen.
Wer waren nun die Wikinger, die Krieger, die auf Raubzug gingen („fara i viking„)? Beiträge des Bandes widmen sich dem Gefolgschaftssystem, der Unterscheidung zwischen Berufskämpfern und dem allgemeinen Aufgebot, aber auch den Slawen innerhalb skandinavischer Heere, den Zeugnissen von Steppennomaden in Birka und anderswo, der Frage nach der Existenz berittener Kämpfer, den Warägern und dem Mythos von den Berserkern, der zu einem nicht geringen Teil für das heutige Image der Wikinger als wilder, blutrünstiger Barbaren verantwortlich sein dürfte.
Die Waffen der Wikinger werden hingegen größtenteils eher summarisch abgehandelt – nicht zu Unrecht, denn hierzu existieren bereits zahlreiche populäre und wissenschaftliche Abhandlungen, deren Ergebnisse nicht ein weiteres Mal wiedergekäut werden müssen (als Einführung z.B. Williams, Weapons of the Viking Warrior). Lediglich der Rundschild, der in der früheren Forschung oftmals wenig Beachtung fand, wird ausführlicher behandelt, da in der jüngeren Zeit auch durch praktische Versuche neue Erkenntnisse zu seiner Handhabung gewonnen wurden. Der Ringkampf, dem in der Wikingerkultur eine bedeutende Rolle zukam, der aber in bisherigen Publikationen höchst selten Bechtung fand, wird in einem kurzen Beitrag zumindest einführend diskutiert.
Neben ebenfalls eher knappen Ausführungen zu den Schiffen und der Seekriegsführung – auch hierüber wurde in den vergangenen rund 100 Jahren schon viel geforscht und geschrieben – werden mit der Strategie der Wikingerkampfweisen sowie dem Befestigungswesen und der Küstenverteidigung weitere bislang vernachlässigte Themen ausführlicher dargestellt.
Die Namen der beteiligten Autorinnen und Autoren wie Rudolf Simek, Thorsten Lemm, Leszek Gardela oder Herausgeber Matthias S. Toplak stehen für ausgewiesenes Fachwissen auf dem neuesten Stand der Forschung. Sämtliche Beiträge sind von der Bereitschaft geprägt, etablierte Ansichten und Schlussfolgerungen kritisch zu hinterfragen und sich von den Quellen anstatt von Theorien und überkommenen Lehrmeinungen leiten zu lassen. Zusammen mit der Auswahl der zahlreichen Abbildungen und deren hochwertiger Qualität hat der vorliegende Band also tatsächlich allerhand Neues zum alten Thema Wikinger beizutragen: Neue Erkenntnisse, neue Befunde, neue Forschungsansätze, neues Bildmaterial und nicht zuletzt viele neue Fragen, die deutlich machen, dass die Geschichte der Krieger und Seeräuber aus dem Norden noch lange nicht zuende erzählt ist.
Durch die Beschränkung auf die kriegerischen Aspekte bleiben zwar, wie eingangs erwähnt, etliche ebenfalls spannende Aspekte wie Bekleidung, Ernährung etc. außen vor. Dafür gelingt es dem Band aber, den gewählten Themenkomplex in einer Breite und Tiefe zu beleuchten, wie es in einer breiter aufgestellten Publikation wohl nicht möglich gewesen wäre.
„Die Wikinger. Seeräuber und Krieger im Licht der Archäologie“ eignet sich somit nicht nur hervorragend als Einstieg in die Beschäftigung mit der materiellen Kultur der Wikinger, sondern stellt auch eine wertvolle Ergänzung zu jedem schon prall gefüllten Bücherregal zum Thema dar.
Der Anhang umfasst ein umfangreiches Literaturverzeichnis und eine Karte, aber leider kein Stichwortregister. Der Preis von € 28,- ist für ein gebundenes Buch von 136 Seiten mit hervorragender Bildqualität auf schwerem Papier recht günstig, wer sich auch nur entfernt für Wikinger interessiert, macht mit einem Kauf also auf keinen Fall etwas falsch.
Darnstadt: wbg/Theiss 2021. Geb., 136 S., 120 Abb. ISBN 978-3-8062-4290-4. € 28,-.
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