Die amerikanisch-kanadische Historikerin, Kulturwissenschaftlerin und Autorin Natalie Zemon Davis ist tot. Sie galt als eine der wichtigsten Vertreterinnen der Neuen Kulturgeschichte. Ihre Studien zu Humanismus und Reformation, Gender Studies und Judentum nehmen bis heute eine Vorreiterrolle in der interdisziplinären Kulturwissenschaft ein.
Natalie Zemon wurde 1928 in Detroit, Michigan (USA) geboren und promovierte 1959 an der University of Michigan mit einer Arbeit über den Protestantismus innerhalb der Arbeiterschicht der Druckindustrie von Lyon in der Frühen Neuzeit. Im Laufe ihrer Karriere lehrte sie u.a. an der Columbia University in New York, an der Brown University in Providence, an der University of California in Berkeley, an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Social in Paris und von 1978 bis zu ihrer Emeritierung im Jahre 1996 an der Princeton University in New Jersey. Sie war zudem Gastprofessorin in Berkley, Yale, Oxford und Toronto. Seit ihrer Emeritierung im Jahr 1996 lebte sie mit ihrer Familie als Schriftstellerin in Toronto und unterrichtete an der dortigen Universität.
Ihre Forschungen konzentrierten sich auf die Sozial- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit vom Ausgang des Mittelalters bis zum 18. Jahrhundert. Dabei nahm sie schon früh die Lebenswelten marginalisierter Gruppen in den Blick und erwarb sich den Ruf, vernachlässigte Quellen zu nutzen, um eindrucksvolle Geschichten zu erzählen, die sich auf Einzelpersonen konzentrieren.
Dies wurde besonders deutlich in ihrem 1983 veröffentlichten und in 21 Sprachen übersetzten Bestseller The Return of Martin Guerre (deutsch: Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre), der von einem französischen Bauern handelt, der im 16. Jahrhundert die Identität des verschwundenen Martin Guerre annahm und drei Jahre mit dessen Familie lebte, ehe der Betrug in einem Gerichtsprozess durch die Rückkehr des wahren Martin Guerre aufgeklärt werden konnte. Das Werk wurde von Daniel Vigne mit Gerard Depardieu in der Hauptrolle verfilmt.
Als eine der ersten Kulturwissenschaftlerinnen setzte sich Zemon Davis mit der sozialen Konstruktion von Geschlechteridentitäten auseinander. Weitere Forschungen und Veröffentlichungen befassten sich mit interkulturellen und interreligiösen Erfahrungen und Konflikten. Mit ihrer Methodik, originellen Perpektiven und dem Format der Mikrostudien prägte sie über Jahrzehnte die Entwicklung der historischen Kulturwissenschaften. Für ihre Arbeiten wurden ihr zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen verliehen, darunter 2012 die höchste zivile Auszeichnung Kanadas.
Nach 74 Jahren Ehe starb 2022 ihr Ehemann, der Mathematiker Chandler Davis, mit dem sie drei Kinder hatte. Die Nachricht von ihrem Tod wurde zuerst am 23. Oktober 2023 von ihrem Kollegen, dem Historiker Paul E. Cohen auf X (ehemals Twitter) verkündet. Natalie Zemon Davis wurde 94 Jahre alt.
Auf medievalists.net findet sich ein Interview, das 2008 schriftlich mit ihr geführt wurde. Von 2019 stammt außerdem eine Ausgabe des Medieval Podcasts von Zemon Davis im Gespräch mit Danièle Cybuslkie:
Diane Peters veröffentlichte 2014 einen Beitrag über Zemon Davis‘ Werdegang im kanadischen Online-Magazin University Affairs.
In der Frankfurter Rundschau erschien am 9. Januar 2023 ein Interview zu ihrer Studie über Leo Africanus.