Tobias Prüwer war fleißig: Nur wenige Wochen nach seinem Buch über Thomas Müntzer und die Revolution des gemeinen Mannes ist bereits sein neuestes Werk erschienen – zu einem völlig anderen Thema.
Der Autor ist nämlich nicht nur Journalist, Historiker und Philosoph, sondern betreibt auch seit vielen Jahren als Lernender und Lehrender historische Kampfkünste, also den Umgang mit so altmodischen Wehren wie Schwert und Dolch. Und wie das so ist als Kulturwissenschaftler und Intellektueller, man kann gar nicht anders als sich mit den historischen, sozialen, philosophischen und psychologischen Dimensionen der eigenen Passionen kritisch auseinander zu setzen.
Die Ergebnisse seiner Überlegungen hat Prüwer nun in Schriftform zusammen gefasst und als Veröffentlichung im Berliner Parodos Verlag vorgelegt.
Auf gerade einmal rund 120 Seiten macht der Leipziger Autor ein großes Fass auf. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen steht das überwiegend beidhändig geführte „Lange Schwert“ des Spätmittelalters, das nunmehr bereits seit einigen Jahrzehnten eine Renaissance als Sportgerät der internationalen HEMA-Szene erlebt.
Unter „Historical European Martial Arts“ werden eine Vielzahl unterschiedlicher bewaffneter und waffenloser Kampfkünste zusammengefasst, die in der Vergangeheit im europäischen Raum entwickelt und/oder geübt sowie dokumentiert wurden, deren Tradition jedoch irgendwann abgebrochen ist und nun wiederbelebt wird. Von den zahlreichen und vielfältigen Wehren, die den Praktizierenden heute zur Verfügung stehen, ist das Schwert mit großem Abstand die beliebteste. Doch das ist kein neues Phänomen, wie Prüwer aufzeigt: Schon in Spätmittelalter und Renaissance widmeten sich deutlich mehr Fechtbücher dem Schwertkampf als etwa dem Umgang mit Dolch oder Speer.
Das Schwert übte offenbar schon auf unsere Vorfahren eine besondere Faszination aus. Die Primärwaffe des Ritters war eigentlich die Lanze, doch das Schwert wurde zum Symbol des Rittertums schlechthin. Es trug Namen wie Excalibur oder Balmung, wurde von legendären Schmieden erschaffen und von Helden wie Siegfried, Roland oder Lancelot geführt. In der heutigen Popkultur knüpfen Conan, der „Highlander“ oder der „Witcher“ nahezu nahtlos an diese Tradition an.
Auch im Sprachgebrauch haben Schwert und Schwertkampf bis heute Spuren hinterlassen, denen Prüwer im ersten Kapitel „Waffenkunden“ ebenfalls nachgeht.
Das zweite Kapitel ist den historischen Quellen, insbesondere der Lehre des legendären Fechtmeisters Johannes Liechtenauer gewidmet, das dritte deren Wiederentdeckung und -belebung durch die heutige HEMA-Szene und ihre Vorgänger im 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Der Umgang mit dem Schwert erfordert weniger körperliche Kraft als vielmehr Geschick, Finesse, Reaktionsvermögen und Taktik. Das wird in den erhaltenen Fechtbüchern des 14. bis 16. Jahrhunderts deutlich, wenngleich diese nicht als Lehrbücher zu verstehen sind. Sie bedienen sich einer besonderen Fachterminologie und einer bewusst schwammigen Sprache, um zu verhindern, dass die „Kunst“ allgemein bekannt würde. Auch dieser Nimbus einer Geheimlehre nur für Eingeweihte trug und trägt ohne Frage zur Faszination des Schwertkampfs bei.
Darin macht Prüwer ein großes Unterscheidungsmerkmal von HEMA gegenüber anderen Kampfkünsten aus: Hier wird Buchwissen in körperliche Praxis umgesetzt. Das Hobby besteht nicht nur im regelmäßigen Training mit dem Schwert in der Hand, sondern auch im Lesen der Quellen, der Beschäftigung mit historischen Sprachformen und zuweilen Handschriften, der Detektivarbeit der Rekonstruktion einzelner Techniken oder ganzer Fechtsysteme, und dem Austausch darüber.
Gerade diese Mischung aus physischer und intellektueller Herausforderung macht für viele Aktive den Reiz von HEMA aus. Prüwer nennt aber noch weitere gute Gründe, sich im 21. Jahrhundert mit Schwertkampf zu beschäftigen. Unweigerlich stellt sich dabei jedoch auch die Frage: Wie hältst Du’s mit der Gewalt? Gerade die Ausführungen – mit zahlreichen Zitaten von Psychologen, Soziologen, Kampfkünstlern u.a. – dieses Abschnitts im vierten und letzten Kapitel regen dazu an, sich mit der eigenen Position in dieser Frage zu beschäftigen.
Der Versuch, eine „Philosophie des Schwertkampfs“ auf nur 120 kleinformatigen Seiten zu verfassen, zwingt notwendigerweise zu Knappheit und mitunter auch zu einer gewissen Oberflächlichkeit. Zu jedem der vier Kapitel ließen sich umfangreichere, eigenständige Werke verfassen, was auch bereits geschehen ist und geschieht – viele davon werden von Prüwer zitiert und im umfangreichen Literaturverzeichnis angegeben.
Gerade die HEMA-Szene diskutiert gerne und viel, und es dürften sich etliche Passagen finden, denen der/die Eine oder Andere mit Leidenschaft widersprechen würde. In diesem Fall hätten Prüwers Ausführungen ihren (vermutlich) intendierten Zweck erfüllt: Die Lesenden zum Nachdenken über die eigenen Ansichten und Haltungen zu Schwert und Schwertkampf, Kampfkunst vs. -sport, zur Faszination der Gewalt und zahlreichen anderen behandelten Aspekten anzuregen, gleichsam ihre persönliche „Philosophie des Schwertkampfs“ zu entwickeln.
In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, für welche Zielgruppe Tobias Prüwer sein Büchlein eigentlich verfasst hat. Für HEMA-Praktizierende findet sich ohne Frage viel Anregendes, aber auch Altbekanntes in den Kapiteln zur Waffenkunde, zu den Quellen und zur „Gegenwart des Schwertkampfs“. Schwert-Fans ohne praktischen Bezug zum historischen Fechten hingegen werden mit einigen der geschilderten Erfahrungen vermutlich wenig anfangen können. Und ob sich philosophisch Interessierte ohne Leidenschaft für mittelalterliche Blankwaffen auf ein Werk zum Schwertkampf einlassen?
Die Empfehlung des Rezensenten lautet, dies auf jeden Fall zu tun. Es schadet nie, den eigenen Horizont zu erweitern, und Prüwers sehr persönlicher Text verbindet auf unterhaltsame und anregende Weise Hoch- und Popkultur, historische Quellen und postmodernes Denken, berührt Geschichte, Philosophie, Soziologie und Psychologie und ermutigt dazu, sich auf ähnlich kritische Weise mit den eigenen Passionen auseinanderzusetzen.
Gerade weil Prüwer aus subjektiver Perspektive schreibt und nicht auf streng wissenschaftliche Weise jedes Detail bis ins Kleinste ausdiskutiert, finden sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für weiterführende persönliche Gedanken, gleich losen Fäden, an denen man ziehen kann und durch die sich spannende neue Layrinthe erschließen lassen.
Berlin: Parodos Verlag 2025. Broschiert, 125 S., 7 Abb. ISBN 978-3-96824-041-1. € 12,90.