Die Legende der/des hl. Theodora/us

Das Reimpassional, auch Altes Passional genannt, ist eine Sammlung von mittelhochdeutschen Heiligenlegenden in Reimform. Es entstand im 13. Jahrhundert sehr wahrscheinlich im Umfeld oder durch einen Angehörigen des Deutschen Ordens. Vorlage war wohl vornehmlich die lateinische „Legenda aurea“ des Jacobus de Voragine.
Darin findet sich auch die bemerkenswerte Geschichte der hl. Theodora, einer jungen, hübschen Frau, die ein glückliches und frommes Leben mit ihrem Ehemann führte. Das war dem Teufel ein Dorn im Auge, so dass er sie zum Ehebruch verleitete. Von Schuldgefühlen gequält, klagt und jammert sie, bis ihr Ehemann sie schließlich verlässt.
In ihrer Trauer und Scham ergreift Theodora daraufhin dratische Maßnahmen:

„die vrowe mutes veste
legete abe ir wiblich gewant
und zoch an sich zuhant
mannes mut und mannes kleit.
ir har alumme sie besneit
und schuf sich rechte, als ein man.“

In Männerkleidung und mit kurz geschnittenen Haaren wandert sie dann zu einem nahegelegenen Mönchskloster und bittet um Aufnahme, die ihr auch gewährt wird. Nach ihrem Namen gefragt, erwidert sie: „Theodorus“.

Als Mönch führt sie fortan ein Leben in Tugend, Demut, Fleiß und Frömmigkeit, sehr zum Gefallen ihrer Mitbrüder und des Abts. Der Erzähler fährt dann fort:

„Wie lazen hier den wibesnamen.
si truc do an ir sunder schamen
beider munchlichez kleit
und darzu sulche manheit,
daz si wol heizen mochte ein man.“

Von dieser Stelle an spricht der Text nicht mehr von ihr, der Sünderin Theodora, sondern verwendet ausschließlich die männlichen Pronomen er/ihm und den Namen Theodorus.

Es erscheint erstaunlich, dass ein geistlicher Autor des 13. Jahrhunderts offenkundig ganz problemlos zu etwas imstande war, mit dem sich heutzutage etliche Zeitgenossen scheinbar so schwertun: Ohne wenn und aber akzeptiert er den Wunsch der späteren Heiligen, als Mann zu leben und ihren Namen zu ändern, und spiegelt diesen Geschlechterwandel in seinem Sprachgebrauch wider.

Erst als nach dem Tod des Theodorus der Schwindel auffliegt, kehrt auch der Erzähler wieder zu den weiblichen Pronomen und dem Namen Theodora zurück. Dazwischen hatte sich Etliches ereignet, das hier nachzuerzählen den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde.

Die Geschichte ist m.W. ausschließlich im genannten Reimpassional enthalten (Nr. 39, S. 319-326).
Es handelt sich bei der Hauptfigur um eine andere Theodora als jene von Alexandrien, der mit Hilfe ihres Geliebten Didymus in Männerkleidern die Flucht aus einem Freudentempel gelingt, wie  Ambrosius von Mailand im 4. Jahrhundert berichtet. Zwar geben sich beide als Mann aus, doch während dies für die schöne Christin aus Alexandrien lediglich eine vorübergehende Täuschung bedeutet, um ihrem Schicksal zu entkommen, trifft die Theodora des Reimpassionals diese Entscheidung aus eigenem Antrieb und verbringt den Rest ihres Lebens als Mönch, um Buße zu tun und sich ihrer früheren weiblichen Identität dauerhaft zu entledigen:

„daz si wol heizen mochte ein man.“

 

Literatur:
Friedrich Karl Köpke (Hg.): Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des dreizehnten Jahrhunderts (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 32), Quedlinburg/Leipzig 1852 (Nachdruck Amsterdam 1966). [Online.]

 

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