Tillmann Bendikowski: „Ein Jahr im Mittelalter“

Bendikowski: "Ein Jahr im Mittelalter", München 2019.

Bendikowski: „Ein Jahr im Mittelalter“, München 2019.

Vor einigen Jahren veröffentlichte ich in diesem Blog eine Reihe namens „Mittelalterlicher Jahreslauf„, in der – basierend auf zeitgenössischen Kalenderbildern – die landwirtschaftlichen Tätigkeiten, sonstigen saisonalen Arbeiten, Feiertage und ganz allgemein das Leben der Menschen in den Monaten des Jahres in aller gebotenen Kürze zusammengefasst wurden.
Eine ähnliche, wenngleich deutlich ausführlichere Darstellung erwartete ich von Tillmann Bendikowskis Buch „Ein Jahr im Mittelalter“, von dem es heißt:

„In zwölf Kapiteln mit über 100 farbigen Illustrationen schildert er Monat für Monat, wie das Leben im 12. Jahrhundert organisiert war – auf dem Land wie in den neu entstehenden Städten, im Kloster wie auf der Burg.“

Meine Vermutung erwies sich weitestgehend als Irrtum – eine Enttäuschung war die Lektüre des Werks aber zum Glück dennoch nicht.

Tatsächlich dienen die Monate nur recht lose und oberflächlich, um nicht zu sagen: willkürlich, als Ordnungskriterium für die Kapitelinhalte. Gelegentlich wird auf jahreszeitlich anfallende Tätigkeiten in der Landwirtschaft oder im Bauwesen eingegangen, auf besondere Feiertage, den Rückgang des Straßen- und Schiffsverkehrs im Winter, das Schlachten und Einmachen im Herbst. Doch im Vordergrund stehen andere Aspekte: Bendikowski präsentiert auf rund 400 Seiten eine Alltags- und Kulturgeschichte des hohen Mittelalters, mit Schwerpunkt auf dem 12. Jahrundert, wenngleich er, bedingt durch Quellenlage, längerfristige Entwicklungen und überzeitliche Strukturen, zuweilen in beide Richtungen darüber hinausgreift.

Seine Themen sind umfassend, vom Leben in der Stadt über die Fortbewegung, Bautätigkeit, Rittertum und Fehdewesen bis hin zu Glaube und Frömmigkeit oder Fragen der Herrschaft. Sicherlich ließe sich aufzählen, welche Aspekte zur kurz kommen, zu oberflächlich abgehandelt werden oder gänzlich fehlen, etwa Fragen der Energieerzeugung und -nutzung, das Schriftwesen, die Geldwirtschaft. Aber jeder Autor muss eine Auswahl treffen, und Bendikowski hat die seine ohne Frage mit Bedacht getroffen.
Etwas unerfreulich ist allein das Kapitel über das Gesundheitswesen, in dem wieder einmal die Unzulänglichkeit der mittelalterlichen Heilmethoden und ihr spektakuläres Scheitern angesichts verheerender Epidemien im Vordergrund steht. Zwar erkennt der Autor an, dass z.B. mit der Einrichtung von Spitälern oder Leprosorien Fortschriftte erzielt wurden, oder das es um die Hygiene im Allgemeinen nicht so schlecht stand, wie es anderswo noch immer gerne dargestellt wird. Doch von den städtischen Badehäusern ist es mal wieder nur ein kurzer Gedankensprung zum Thema Prostitution, die Diätetik – die Lehre von der gesunden Ernährung und der Ausgewogenheit im Lebenswandel, der eine enorme Bedeutung zugemessen wurde – findet sich nur en passant erwähnt. Stattdessen scheint die Ärztezunft der Zeit fast ausschließlich aus Scharlatanen, Wucherern oder hilflosen Versagern bestanden zu haben, während sich doch gerade im 12. Jahrhundert in Salerno und anderswo eine medizinische Profession entwickelte, die bedeutende Fortschritte in Krankheits- und Kräuterlehre, Anatomie, Frauenheilkunde und zahlreichen anderen Bereichen erzielte.

Gut gelungen ist dagegen die Anbindung abstrakter Begriffe wie Gottesgnadentum oder Lehnswesen an konkrete Ereignisse oder Schicksale. Geschichte in Geschichten erzählen, das ist Bendikowskis Absicht, deren Umsetzung im Großen und Ganzen gut funktioniert. Das Buch ist unterhaltsam und leicht zu lesen, bietet dennoch quellenbasierte Erkenntnisse und Fakten, bleibt dabei allerdings stellenweise etwas oberflächlich oder gleitet zu sehr ins Anekdotische ab. Im Bemühen um Anschaulichkeit bleiben zuweilen komplexe Zusammenhänge auf der Strecke.
Dass hingegen die Oberschichten mehr Aufmerksamkeit erhalten als die „einfachen Leute“ ist nur bedingt dem Autor anzulasten, sondern überwiegend der Quellenlage geschuldet. Leider entsteht so jedoch der Eindruck, das Leben der arbeitenden Bevölkerung sei vorrangig ein harter, erbitterter, freudloser und häufig erfolgloser Kampf ums Überleben gewesen, während die weltlichen und geistlichen Eliten ihren Alltag in Saus und Braus verbrachten. Die Wahrheit dürfte weit weniger schwarz/weiß ausgesehen haben, zumal gerade das 12. Jahrhundert als eine Zeit gilt, in der sich die Lebensbedingungen für weite Bevölkerungsteile spürbar verbessert haben, Innovationen und Verbesserungen in Landwirtschaft und Technik postivie Auswirkungen auf die Ernährungslage zeitigten, das enorme Bevölkerungswachstum seinen Anfang nahm etc.

Doch bei aller Mäkelei: Es macht Spaß, „Ein Jahr im Mittelalter“ zu lesen und man tut es durchaus mit Gewinn. Es war nicht das Ziel des Autors, bahnbrechende neue Erkenntnisse zu liefern, sondern Geschichte anschaulich zu erzählen, und das ist ihm – mit den genannten Abstrichen – gut gelungen. Als Einstieg in die Geschichte des Hochmittelalters, konkret des 12. Jahrhunderts in Deutschland, ist Bendikowskis Werk daher durchaus geeignet. Ansätze zur Vertiefung einzelner Aspekte bietet das recht umfangreiche Literaturverzeichnis.
Der Anhang enthält außerdem ein Register sowie eine kurze Chronik zum 12. Jahrhundert. Mit 394 Abbildungen ist das Buch großzügig illustriert. Die rund 500 Endnoten beschränken sich glücklicherweise auf Quellenangaben und stören daher nicht den Lesefluss.

München: C. Bertelsmann 2019. 446 S., 394 Abb. ISBN 978-3-570-10283-1. € 28,- (D).

 

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