Das Bootsgrab von Sutton Hoo

Rätselhafter Lichtschein in einer dunklen Zeit

In der englischen Geschichtsschreibung werden die Jahrhunderte zwischen dem Abzug der Römer 410 und der Herrschaft Alfreds „des Großen“ (871-899) oder sogar bis zur normannischen Eroberung 1066 als Dark Ages bezeichnet – als dunkles Zeitalter, aus dem praktisch keine Schriftzeugnisse oder andere verlässliche Quellen überliefert sind. Lediglich archäologische Funde in überschaubarer Zahl werfen vereinzelte Schlaglichter auf Aspekte der angelsächsischen Geschichte und Kultur jener Zeit, werfen aber oft genug mehr Fragen auf, als sie beantworten können. Die am hellsten strahlende, in ihrer Einzigartigkeit aber zugleich auch rätselhafteste dieser spärlichen Lichtquellen ist das spektakuläre Bootsgrab von Sutton Hoo.

Das Gräberfeld von Sutton Hoo

Die Region Sutton Hoo erstreckt sich entlang des Flusses Deben, gegenüber der kleinen Hafenstadt Woodbridge in der englischen Grafschaft Suffolk, Teil des historischen Königreichs East Anglia. Unter Herrschaft der Wuffinga-Dynastie entwickelte sich das nahe gelegene Gipeswic (Ipswich) zu einem wichtigen Handelsplatz.
Die Begräbnisstätte besteht eigentlich aus zwei separaten Gräberfeldern. Der „Neue Friedhof“ wurde seit dem Jahr 2000 bei Arbeiten zur Errichtung des Besucherzentrums ergraben. Die Existenz des eigentlichen angelsächsischen „Friedhof von Sutton Hoo“ hingegen war seit jeher bekannt, denn er besteht aus rund 20 einzelnen, weithin sichtbaren Grabhügeln aus der Zeit von etwa 575 bis 625.

Das Gräberfeld von Sutton Hoo

Lage der Grabhügel auf dem Friedhof von Sutton Hoo. (Quelle: Wikipedia/wikicommons, User: Amitchell125)

Das Land befand sich 1938 im Besitz der Witwe Edith Pretty, die den lokalen Archäologen Basil Brown mit einer ersten Untersuchung der Gräber beauftragte. Seine Öffnung der Hügel 2, 3 und 4 brachte nur einige Überreste – darunter Bootsnieten – zu Tage, denn sie waren wohl bereits im Mittelalter Opfer von Plünderungen geworden.
Im Mai 1939 begann Brown mit der Erforschung von Hügel 1 und entdeckte innerhalb kürzester Zeit eine Vielzahl von Bootsnieten, die die Form eines Bootsrumpfs von beträchtlichen Ausmaßen abbildeten. Nach Kriegsende wurde Rupert Bruce-Mitford vom British Museum mit der Untersuchung der bislang geborgenen Artefakte beauftragt. Sein dreibändiger Bericht bildet trotz einiger Fehleinschätzungen bis heute das Standardwerk zu den Gräbern von Sutton Hoo.
Die dritte und größte Grabung fand von 1983 bis 1992 unter Leitung von Martin Carver statt. Wie zuvor wurden ein großer Teil des Gräberfeld unberührt gelassen, um künftige Untersuchungen mit besseren technischen Möglichkeiten zu ermöglichen, und alle geöffneten Hügel wurden anschließend wieder in ihren optischen Urzustand versetzt.
Auffällig ist die Vielfalt der Begräbnisformen: Hügel 3 barg die Asche eines Mannes und eines Pferdes, zusammen mit einer fränkischen Wurfaxt und verschiedenen Objekten ost-mediterraner Herkunft. Ein Mann, eine Frau, ein Pferd und möglicherweise ein Hund unter Hügel 4 waren ebenfalls eingeäschert worden. In den Gräbern 5, 6, 7 und 18 war die Asche der Verstorbenen in Bronzeurnen niedergelegt worden. Körperbestattungen eines Mannes, einer Frau und eines Jungen fanden sich im ebenen Gelände zwischen den Grabhügeln.
Ein offensichtlich nicht ganz unbedeutender Mann war mit seinem Pferd, einem Schwert mit feuerverschweißter Klinge und verziertem Schwertgurt, zwei Speeren, einem Schild sowie verschiedenen, teils aufwändig verzierten Alltagsgegenständen unter Hügel 17 zu Grabe gelegt worden. Ein Frauengrab (Hügel 14) war Opfer von Plünderungen geworden und enthielt nur noch Überreste, die auf einen herausgehobenen Status der Bestatteten schließen lassen.
Auch Grab 2 war vor langer Zeit geplündert worden. Ursprünglich hatte es sich um eine Bootsbestattung gehandelt, doch von den Grabbeigaben waren nur Reste vorhanden. Die Spitze einer feuerverschweißten Schwertklinge sowie Fragmente eines drachenförmigen Zierelements zeigen starke Ähnlichkeiten mit entsprechenden Funden aus Hügel 1, die Beschläge eines Trinkhorns aus vergoldetem Silber waren sogar mit den dort gefundenen identisch.
Schließlich wurden in Hügel 5 sowie am östlichen Rand des Gräberfeld Spuren von Hingerichteten gefunden, die wahrscheinlich aus dem 8. und 9. Jahrhundert stammen.

England im 7.-9. Jh.

Ein König der Angeln

Die Funde von Sutton Hoo und einige anderer archäologischer Glücksfälle (wie z.B. der Staffordshire Hoard) widersprechen der lange gehegten Annahme, die angelsächsische Gesellschaft sei eine primitive, bäuerliche, isolierte Kultur kriegerischer Barbaren am Rande der bewohnten Welt gewesen. Besonders friedlich ging es im England des 5.-7. Jahrhundert allerdings auch nicht gerade zu. Die germanischen Stämme, die zunächst auf Bitten der keltischen Briten ins Land gekommen waren, hatten nach und nach den größten Teil der Insel unter ihre Gewalt gebracht. Um 600 hatte sich rund ein Dutzend kleinerer Königreiche etabliert, die untereinander um Land, Macht und politische Vorherrschaft rangen.
Die angelsächsische Gesellschaft war streng hierarchisch organisiert. An der Spitze eines Stammes stand der König, der nach dem Tod seines Vorgängers vom witan, der Versammlung der Stammesältesten und Sippenführer gewählt wurde. Macht und Ansehen waren vor allem von militärischen Erfolgen abhängig: Ein siegreicher Anführer konnte viele Gefolgsleute um sich scharen, die er mit Geschenken – Gold, Waffen, Sklaven, Land – an sich band. „Seinen Verheißungen getreu, verteilte er dort beim Festmahl prächtige Ringe und andere Kostbarkeiten“, heißt es im altenglischen Epos Beowulf von König Hrothgar, der wiederholt als „Schatzspender“ und „Ringgeber“ bezeichnet wird.
Um seine Macht zu erhalten und zu erweitern, musste ein Herrscher also Kriege führen, Siege erringen, Tribute einfordern und seine Gefolgschaft bei Laune halten. Die Anhäufung von Reichtum war kein Selbstzweck, sondern unmittelbarer Ausdruck von militärischem Erfolg und weit reichender Herrschaft über tributpflichtige Vasallen sowie das Mittel, Verbündete zu gewinnen und die Loyalität des Gefolges zu sichern.
Besonders mächtigen Königen gelang es, ihre Nachbarn zu unterwerfen und sich als Oberherrscher über eine Anzahl von Kleinkönigen zu etablieren. Ein solcher Herrscher war Rædwald, König der Ostangeln aus dem Geschlecht der Wuffinga. Als er um 599 zum Nachfolger seines Vaters Tytila gewählt wurde, stand sein kleines Reich noch unter der Vorherrschaft von Kent. Dessen König Æthelberht war mit einer fränkischen Christin verheiratet und konvertierte als erster angelsächsischer Herrscher selbst zum Christentum.
Wahrscheinlich war er es, der Rædwald um 604 überzeugte, ebenfalls den neuen Glauben anzunehmen, wenngleich diese Entscheidung unter den Ostangeln nicht besonders populär gewesen zu sein scheint. Späteren Quellen zufolge ließ Rædwald christliche Altäre errichten, ohne den alten Glauben aufzugeben.
Indem er Edwin, dem vertriebenen Schwager König Æthelfriths von Northumbria Zuflucht gewährte, geriet er mit diesem in einen Konflikt, den Rædwald 616/17 in der Schlacht am Fluss Idle für sich entscheiden konnte. Æthelfrith wurde erschlagen, und der verstoßene Edwin übernahm die Herrschaft in Northumbria als Vasall des Königs von East Anglia.
Rædwald scheint seine Macht in der Folge noch erweitert zu haben, denn Beda Venerabilis bezeichnet ihn 731 in seiner Historia ecclesiastica gentis Anglorum („Kirchengeschichte des englischen Volkes“) als rex anglorum, „König der Angeln“, und die Angelsächsische Chronik nennt ihn 827 gar bretwalda – „Herrscher Britanniens“.

Als Rædwald um das Jahr 624 starb, wurde in etwa vier Meilen (6,4 km) Entfernung zu seinem Herrschaftssitz Rendlesham ein 27 m langes Boot aus Eichenplanken vom Fluss Deben an Land gezogen, einen rund 30 m hohen künstlichen Hügel hinaufgeschafft und dort in ost-westlicher Ausrichtung in eine Senke gelegt. Mittschiffs wurde eine Hütte mit Giebeldach errichtet, groß genug, um einen Sarg und eine atemberaubende Sammlung wertvoller Grabbeigaben aufzunehmen, die dem verstorbenen König im Jenseits nützlich sein und seinen herausragenden Status zum Ausdruck bringen sollten. Die Senke wurde dann mit Erde gefüllt und über dem Boot ein Grabhügel errichtet, der mehr als 1.300 Jahre lang unberührt bleiben sollte.

Das Boot im Hügel

So zumindest lautet ein mögliches Szenario, das durch verschiedene Indizien wie z.B. die  Nähe des Grabes zu Rædwalds Königssitz Rendlesham gestützt wird und unter Forschern – auch mangels überzeugender Alternativen – breite Anerkennung gefunden hat. Tatsache ist jedoch, dass niemand mit Sicherheit sagen kann, wer in dem einmalig reich ausgestatteten Bootsgrab von Sutton Hoo beerdigt wurde. Bei seiner Entdeckung 1939 war kein Leichnam mehr enthalten, keine Inschrift, kein Besitzvermerk auf einer der Grabbeigaben wies auf die Identität des Verstorbenen hin, keine zeitgenössische oder spätere Quelle liefert einen Hinweis auf die hier erfolgte Bestattung oder auf Tod und Begräbnis König Rædwalds.

Foto von den Ausgrabungen 1939.

Foto von den Ausgrabungen 1939: Tausende von Eisennieten und Abdrücke im Sand zeigen die Position der nicht erhaltenen Eichenplanken an.


Während der Leichnam und die Eichenplanken des Schiffsrumpfs in der sauren Erde Suffolks vergangen waren, hatten sich Objekte aus Metall hervorragend erhalten. Abdrücke und Verfärbungen im Sand sowie mehrere Tausend eiserne Nieten erlaubten den Ausgräbern, die Form des seetüchtigen Bootes zu rekonstruieren, das keinen Mast aufwies, aber Platz für 40 Ruderer bot. Es weist Ähnlichkeiten mit dem eisenzeitlichen Bootsfund von Nydam auf und könnte von derselben Art gewesen sein wie jene, mit denen die ersten Angeln, Sachsen, Jüten und Friesen im frühen 5. Jahrhundert auf die Insel gekommen waren.
Ein Teil der hölzernen Grabkammer war im Laufe der Jahrhunderte eingestürzt, und es ist unklar, ob der Leichnam in einem Sarg oder auf einer erhöhten Plattform gelegen hatte, da keine Überreste davon erhalten sind. Sehr wahrscheinlich hatte der Tote mit dem Kopf nach Westen gelegen, denn dort fanden sich Fragmente eines der spektakulärsten Objekte unter den vielfältigen Grabbeigaben: Ein reich verzierter Helm mit Scheitelkamm, Wangenklappen und Gesichtsmaske. Er war durch den Einsturz des Dachs in hunderte Stücke zerbrochen, die im Zuge der Restauration mühsam von Rost befreit, identifiziert und wieder zusammengefügt werden mussten.

Der aus zahlreichen Bruchstücken wieder zusammengefügte Helm.

Der aus zahlreichen Bruchstücken wieder zusammengefügte Helm. (Quelle: Wikipedia/wikicommons, User: geni)

Ein Helm als Zierde und Schutz

Eine Rekonstruktion des Helms ist heute zusammen mit den meisten übrigen Schätzen von Sutton Hoo im British Museum in London zu bewundern, und Abbildungen davon zieren unzählige Bucheinbände. Der Stil der figürlichen und geometrischen Dekorationen auf den Platten aus verzinnter Bronze ähnelt Funden aus den annähernd zeitgleichen Bootsgräbern von Vendel und Valsgärde in der ostschwedischen Provinz Uppland. Der Helm von Sutton Hoo ist jedoch ungleich feiner und aufwändiger gearbeitet. Der Kamm wird von einer Schlange gebildet, die den Schnabel eines Vogel berührt, dessen Körper als Nasenschutz, Schwingen als Augenbrauen und Schwanz als „Schnurrbart“ der Maske fungieren.
Ungeachtet der optischen Ähnlichkeiten weist der Helm von Sutton Hoo eine andere Konstruktionsweise auf als die schwedischen Modelle, verfügt er doch über eine aus einem Stück getriebene, eiserne Helmschale. Da es keine vergleichbaren Funde aus England gibt, stellt sich die Frage, wo und von wem er hergestellt wurde. Waren schwedische Künstler und Handwerker in East Anglia tätig, die Stil und Techniken aus ihrer Heimat mitgebracht hatten? Vieles spricht für einen solchen kulturellen Austausch.

Die Schweden-Connection

So weist auch der Schild, der an die nordwestliche Wand der Grabkammer von Sutton Hoo gelehnt war, deutliche Verwandtschaft mit Exemplaren aus Vendel und Valsgärde auf. Es handelt sich um einen sehr großen Rundschild mit Buckel und Beschlägen, die mit eingeprägten Ornamenten im skandinavischen Tierstil sowie eingelassenen Granaten verziert waren. Teile des Dekors könnten tatsächlich mit demselben Stempel geprägt worden sein, der auch bei einem Schild in Vendel verwendet wurde.

Rekonstruktion des Schilds.

Rekonstruktion des Schilds mit den Originalbeschlägen. (QUelle: wikipedia/wikicommons, User: minophis.)

Es ist nicht auszuschließen, dass Söhne angelsächsischer Könige für eine Weile an skandinavischen Höfen erzogen wurden. Die Praxis, einen potentiellen Thronfolger in die Obhut eines befreundeten Herrschers zu geben, stärkte nicht nur politische Bindungen, sondern konnte in Zeiten oft gewaltsamer Dynastiewechsel sogar eine Lebensversicherung darstellen – auch darauf liefert das Beowulf-Epos Hinweise.
Besonders auffällig ist, dass die einzigen bekannten Schiffsbestattungen außerhalb Skandinaviens vor Beginn der Wikingerzeit in East Anglia zu finden sind. Dass es sich jedoch um einen besonderen Brauch handelte, der nur ausgewählten Herrschern zuteil wurde, geht wiederum aus einer Passage in Beowulf hervor:

„Sie brachten den Herrscher, den gewaltigen Ringgeber, in dieses Boot und streckten ihn aus neben dem Mast. Von weither schafften sie Schätze herbei und kostbare Dinge aus fernen Landen. Kein Schiff wurde je herrlicher ausgestattet mit Kriegsgerät und scharfen Klingen, mit Brünnen und Harnischen.“

Allerdings wurde der tote Dänenkönig Scyld in seinem Grabschiff nicht beerdigt, sondern auf die See hinaus gesandt.
Stammte die Wuffinga-Dynastie, der Rædwald angehörte, vielleicht sogar aus Schweden? Auszuschließen ist auch das nicht, denn die Herkunft dieses Königsgeschlecht liegt – wie so vieles – im Dunkeln.

Internationales Kunsthandwerk in angelsächsischer Erde

Nicht nur Beziehungen nach Skandinavien lassen sich aus den Grabbeigaben nachvollziehen. Unweit des Helmes befanden sich zehn identische Schalen oder Becher aus Silber, die wahrscheinlich im 6. Jahrhundert in Byzanz hergestellt worden waren. Zwei silberne Löffel, vermutlich ebenfalls byzantinischer Herkunft, tragen die Namen „PAULOS“ und „SAULOS“ in griechischer Schrift. Es könnte sich um Taufgeschenke handeln – Gaben des christlichen Königs und möglichen Taufpaten Æthelberht an Rædwald?
Das Grab enthielt weitere Kunsterzeugnisse oströmischer Provenienz, darunter eine große, flache Silberschale mit getriebenen Ornamenten, die Beschauzeichen des Kaisers Anastasius I. (491-518) aufweist. Eine kannelierte Schüssel aus Silber, in die das Relief eines Frauenkopfes eingearbeitet war, scheint eine spätantike Arbeit aus Italien zu sein. Eine mit Tierfiguren verzierte Bronzeschale könnte koptischen Ursprungs sein. Insgesamt ist die Ansammlung von Silberarbeiten aus dem Mittelmeerraum für diese Zeit in Britannien einmalig und zeugt von weit reichenden Handelsbeziehungen, die der Vorstellung einer isolierten Gesellschaft am Rande der Welt deutlich widersprechen.
Reste von Tuchen – höchstwahrscheinlich Mäntel, Wandbehänge, Decken und ähnliches – deuten ebenfalls darauf hin, dass die angelsächsische Elite des 6. und 7. Jahrhunderts Zugang zu Luxuswaren aus der gesamten bekannten Welt hatte. Während Farben und Webmuster von Textilien am Kopf- und Fußende der Bestattung auf eine Herkunft aus Skandinavien verweisen, dürften andere Stücke aus Syrien stammen.

Der Haushalt eines Verstorbenen

Das Grab enthielt auch eine Vielzahl von Alltagsgegenständen, allerdings ebenfalls von einer Qualität, die einer hochstehenden Persönlichkeit würdig war. Dazu zählen etwa ein eisenbeschlagener Bottich aus Eibenholz, ein Holzeimer, Kämme aus Geweih, Trinkgefäße aus Glas und Ahornholz, Schuhe und andere, nicht mehr zu identifizierende Objekte aus Leder, ein Daunenkissen, ein Spielstein aus Bein und etliches mehr. Ein Spielbrett aus Bein und Holz – ein skandinavisches Hnefnatafl-Spiel? – könnte chemischen Spuren zufolge am Kopfende der Grabkammer gelegen haben, aber dem Verfall zum Opfer gefallen sein.
Einige dieser Gegenstände bestätigen wiederum Angaben im Beowulf-Epos und illustrieren das Leben am Hof eines wohlhabenden angelsächsischen Landbesitzers oder gar Herrschers. So fand sich neben einem großen Bronzekessel mit Griffringen aus Eisen eine fast 3,5 m lange Eisenkette mit reich ornamentierten Gliedern, die offensichtlich dazu diente, den Kessel an den Balken einer hohen Halle aufzuhängen.

Rekonstruktion der Leier.

Ein Nachbau der Leier im British Museum.

In einer solchen „Methalle“, den späteren Langhäusern der Wikinger nicht unähnlich, hielt ein Herrscher sein Gefolge mit Gelagen und Festmählern bei Laune, wobei Geschenke verteilt wurden und Barden die Heldentaten des Hausherrn und seiner Vorfahren besangen. Zur musikalischen Begleitung diente wohl nicht selten eine sechssaitige Leier, wie sie im Grab von Sutton Hoo in einer Hülle aus Biberfell gefunden wurde und in weiten Teilen des germanischen Kulturkreises verbreitet gewesen ist.
In diesen Kontext gehören auch zwei große Trinkhörner aus Auerochsenhorn mit Rändern und Beschlägen aus graviertem Gold. Auch solche Trinkgefäße finden in Beowulf Erwähnung und sind dort Herrschern vorbehalten, die darin Willkommens- und Ehrentränke darreichen.

Ein herrschaftlicher Krieger oder kriegerischer Herrscher

Neben Helm und Schild vervollständigte ein Ringpanzerhemd die Schutzrüstung des Bestatteten. Es bestand aus abwechselnden Reihen von verschweißten und genieteten Eisenringen und handelt sich um das einzige Exemplar aus angelsächsischer Zeit, das bis heute gefunden wurde. Im Beowulf werden Ringpanzerhemden mehrfach erwähnt, allerdings stets als Ausstattung von Königen, Prinzen und anderen Angehörigen der militärischen Elite.
Auch die Waffen, die zur Rechten des Toten niedergelegt worden waren, lassen diesen als wohlgerüsteten Krieger oder Heerführer erscheinen. Typisch für die angelsächsische Bewaffnung jener Zeit waren Speere, von denen eine Handvoll den Verstorbenen auf seiner letzten Fahrt begleitete, darunter auch drei Exemplare des fränkischen Ango mit Widerhakenspitzen auf langen Eisentüllen.

Das Schwert aus dem Bootsgrab.

Das Schwert mit feuerverschweißter Klinge. London, British Museum.

Das 85 cm lange Schwert verfügt über einen Knauf aus Gold, in Cloisonné- oder Zellenschmelz-Technik mit Einlagen aus Granat verziert. Seine feuerverschweißte Klinge steckte noch immer in einer eher schlichten, aber hochwertig gearbeiteten Scheide, die an einem Wehrgehänge mit Gürtel befestigt war. Beide verfügten über Beschläge aus Gold mit Einlagen aus Granat.
Im Gegensatz zu Speeren sind Schwerter in angelsächsischen Gräbern nur selten anzutreffen. Feuerverschweißte Klingen dieser Art, bei der Eisen und Stahl von verschiedenen Härtegraden unter kontrollierter Hitze und wohl dosierten Hammerschlägen zusammengefügt werden mussten, waren nicht nur äußerst widerstandsfähig und scharf, sondern auch sehr aufwändig herzustellen und daher extrem kostbar. Dementsprechend blieben sie wohlhabenden und mächtigen Herrschern oder Heerführern vorbehalten.
Schwert, Scheide und Wehrgehänge sind als einheimische Arbeiten angelsächsischer Handwerker und Künstler anzusehen. Die Technik der Verzierung in Gold mit Cloisonné aus Granat findet sich auch auf weiteren Objekten, die ursprünglich Bestandteil der Bekleidung des Toten waren. Sie zählen nicht nur zu den absoluten Höhepunkten dieses reich ausgestatteten Grabes, sondern zu den unbestrittenen Meisterwerken des gesamten europäischen Frühmittelalters.

Angelsächsisches Kunsthandwerk

Aus reinem Gold besteht die mit fein ziselierten Tierornamenten verzierte Gürtelschließe. Auf der Rückseite verfügt sie über einen Hohlraum, möglicherweise zur Aufnahme einer Reliquie.

Zwei Schulterspangen dienten dazu, die beiden Hälften eines nicht erhaltenen Brust- und Rückenpanzers aus Leder zusammenzuhalten. Beide bestehen aus zwei identischen, gekrümmten Hälften, die über ein Scharnier mit einem an einem dünnen Kettchen befestigten Dorn verbunden sind. Auf den Oberflächen bilden dünne Grate aus Gold ein Muster aus rautenförmigen Zellen, die mit Granat und Millefioriglas gefüllt sind. Umgeben ist diese Cloisonné-Arbeit von ziselierten Bändern im germanischen Tierstil. Auf den halbrunden Enden der Spangen finden sich Darstellungen wilder Eber und Ornamente aus Golddraht, ebenfalls mit Granat verziert.

Schulterspange.

Eine der beiden Schulterspangen zur Befestigung eines Brust- und Rückenpanzers mit reicher Verzierung aus Gold, Granat und Millefioriglas in Cloisonné-Technik. (Quelle: wikipedia/wikicommons, User: RobRoy.)


Schulterspangen dieser Art waren bereits bei den Römern in Gebrauch, doch Stil und Ausführung sind ohne Zweifel germanisch. Vergleichbare Funde aus angelsächsischem Kontext fehlen zwar, doch lässt die Ähnlichkeit der Gestaltung auf eine Herkunft aus demselben Umfeld wie Schwertknauf, Wehrgehänge und der Verschluss einer Gürteltasche schließen.
Eine lederne Tasche hing ursprünglich am Gürtel, ist aber ebenso wenig erhalten wie dieser. Ihr Verschluss besteht aus einer nierenförmigen Hornplatte, die von einem ornamentierten Rahmen aus Golddraht eingefasst ist. Weitere Cloisonné-Arbeiten mit Granaten stellen Vögel, menschenfressende Wölfe und verschiedene Tiere mit verflochtenen Gliedmaßen dar. Die figürlichen und geometrischen Motive zeigen enge Verwandtschaft mit dem auf skandinavische Einflüsse verweisenden Dekor der Schildbeschläge und des Helms, jedoch übertragen auf die offenbar beliebte angelsächsische Cloisonné-Technik.
Zusammen garantierten diese kostbaren Trachtbestandteile ihrem Träger ein wahrhaft herrschaftliches Erscheinungsbild. Zwar ist verschiedentlich gemutmaßt worden, Helm, Schwert und Schulterspangen hätten rein dekorative Funktion gehabt, seien nie zum Einsatz auf dem Schlachtfeld gedacht gewesen und schon angesichts ihres materiellen Wertes bestimmt niemals den dortigen Gefahren ausgesetzt worden. Auch lassen sich Gebrauchsspuren an der von Rost befallenen Klinge oder den Bruchstücken des Helms heute kaum noch nachweisen.
Die historische Forschung ist sich jedoch heute weitgehend einig, dass die Angelsachsen – wie viele andere Völker – in höchstem Maße geschmückt und ausstaffiert ins Feld zogen. Man zeigte, was man hatte, brachte so den eigenen Wohlstand, wirtschaftlichen und militärischen Erfolg, den Gewinn aus Schlachten und Beutezügen sowie die Gunst und Nähe zum Herrscher zum Ausdruck.

Rätselhafte Grabbeigaben

Der Inhalt der Gürteltasche bietet wie so vieles in diesem Grab Anlass zu Spekulationen. Sie enthielt 37 merowingische Goldmünzen, von denen jede in einer anderen Münzstätte geschlagen, die also wahrscheinlich bewusst aus einem größeren Hort ausgewählt worden waren, sowie drei ungeprägte Münzrohlinge und zwei kleine Goldbarren (ingots). Sollten die Geldstücke dazu dienen, die 40 Ruderer des Grabschiffs für die Überfahrt des Verstorbenen ins Jenseits zu entlohnen?
Das rätselhafteste Objekt des gesamten Ensembles fand sich jedoch an der Westwand in der Nähe des Rundschilds. Es handelt sich um einen länglichen Wetzstein von quadratischem Querschnitt, der keine Spuren von Benutzung aufweist. An den beiden verjüngten Enden sind Gesichter eingeschnitzt, die Bronzefigur eines Hirschen auf einem großen Ring ziert die obere Einfassung.
Hirschen kam in schamanistischen germanischen Naturreligionen besondere Bedeutung zu – handelt es sich also um ein religiöses Symbol? Um die Repräsentation des Blitzes eines Himmelsgottes? Ein königliches Szepter oder eine Art Feldherrenstab? Solange keine vergleichbaren Funde oder eindeutige Bild- oder Textquellen auftauchen, wird die Frage wohl ungelöst bleiben.

Sutton Who?

Wer also wurde in diesem so einmalig reich und vielfältig ausgestatteten Bootsgrab beerdigt? Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass es sich um eine wohlhabende, einflussreiche Persönlichkeit gehandelt haben muss, der in Leben und Tod besondere Verehrung zuteil wurde. Ein Großteil der Beigaben diente dazu, dem Verstorbenen im Jenseits den gewohnten Lebensstil zu ermöglichen. Er hatte also zu Lebzeiten wohl ein großes Hallenhaus bewohnt, in dem er eine Vielzahl von Gefolgsleuten mit Festmählern und Gelagen aushielt und mit Geschenken an sich band. Auch als Krieger dürfte der Tote zur Elite gezählt haben, denn nur diese verfügte über Ringpanzerhemden und Schwerter mit feuerverschweißten Klingen.

Rekonstruktion der ursprünglichen Situation der Bootsbestattung.

Rekonstruktion der ursprünglichen Situation der Bootsbestattung im Besucherzentrum von Sutton Hoo. (Quelle: Wikipedia/wikicommons, User: Gernot Keller)

Welche Indizien sprechen dafür, den Toten als Rædwald zu identifizieren? Da sind zunächst einmal die merowingischen Goldmünzen. Die jüngsten unter ihnen konnten auf die Jahre um 620 datiert werden, was gut zum überlieferten Todesjahr des Königs passen würde. Die Anwesenheit eindeutig christlicher Objekte – möglicher Taufgeschenke – in einem ansonsten durch und durch heidnischen Kontext deckt sich zudem mit den Angaben Bedas und anderer Quellen, Rædwald habe sich zwar taufen lassen, aber dennoch am alten Glauben festgehalten.
Schließlich scheint die prachtvolle, geradezu überreiche Ausstattung des Grabes am ehesten einem Herrscher angemessen, der als bretwalda und rex anglorum bezeichnet wurde. Es ist zwar nicht völlig auszuschließen, dass es sich bei dem Bestatteten um einen der Söhne und Nachfolger Rædwalds handelte, wie verschiedentlich argumentiert wurde. Doch weder Eorpwald († 627/32) noch Sigeberht († um 634) haben in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung vergleichbare Spuren hinterlassen, die sie einer solchen Bestattung würdig erscheinen lassen. Letzterer hatte zudem das Christentum in East Anglia endgültig durchgesetzt, sich nach seiner Abdankung in ein Kloster zurückgezogen und war später heilig gesprochen worden, was eher gegen ein heidnisches Begräbnis sprechen dürfte.
Mit Sicherheit lässt sich die Identität des abwesenden Toten jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht feststellen. So bietet das Bootsgrab von Sutton Hoo zwar einen faszinierenden, vielfältigen Einblick in die angelsächsische Kultur des späten 6. bis frühen 7. Jahrhunderts, hält jedoch auch mehr als 80 Jahre nach seiner Entdeckung noch immer zahlreiche Fragen bereit. In der Tat ein rätselhafter Lichtschein.

Sutton Hoo heute

Ein Großteil der Funde und Rekonstruktionen zahlreicher Grabbeigaben kann heute im British Museum in London besichtigt werden, weitere Artefakte und Nachbildungen sowie eine Ausstellung zur angelsächsischen Geschichte und Kultur bietet das Besucherzentrum von Sutton Hoo:
Sutton Hoo Visitor Centre
Tranmer House, Sutton Hoo, Woodbridge, IP12 3DJ, UK
www.nationaltrust.org.uk/sutton-hoo/

Die Sutton Hoo Society ist eine gemeinnützige Organisation, welche die Arbeit des Sutton Hoo Research Project unter Leitung von Dr. Martin Carver unterstützt: http://suttonhoo.org/
Sie gibt außerdem die Zeitschrift Saxon heraus, die als pdf kostenlos heruntergeladen werden kann: http://suttonhoo.org/saxon

Der Film „The Dig – Die Ausgrabung“ (2020) nach dem gleichnamigen Roman (2007) von John Preston erzählt die Geschichte der Entdeckung des Bootsgrabs 1939 durch den Amateurarchäologen Basil Brown (Ralph Fiennes), angereichert durch einige fiktionale Elemente.

Literatur:

Eine frühere Fassung dieses Beitrags erschien zuerst als „Sutton Hoo. Rätsel um ein angelsächsisches Bootsgrab“ in Karfunkel 111 (April 2014), S. 26-33.

 

2 Gedanken zu „Das Bootsgrab von Sutton Hoo

  1. Ich bin total erstaunt über solch archäologisch wertvollen Fund einem
    Hobbyarchäologen faktisch stehlen zu wollen, denn anders kann man Basil Brows Leistung kaum bewerten.
    Gibt es überhaupt gleichwertige kulturhistorische Funde aus dieser Zeitepoche.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert