Die Reisen des Ritters Jean de Mandeville
Von Frankreich ausgehend erlebte die Buchmalerei im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert eine Blütezeit. Wohlhabende Auftraggeber sorgten für eine wachsende Nachfrage, die von einer immer größeren Zahl kommerzieller Werkstätten oft in Arbeitsteilung befriedigt wurde. Neue literarische Genres verlangten nach veränderten künstlerischen Ausdrucksformen, und zahlreiche Meister entwickelten ihre je eigenen Stile, die es heute ermöglichen, ihnen bestimmte Werke mehr oder weniger zweifelsfrei zuzuordnen, auch wenn ihre Namen meist nicht überliefert sind.
Ein Paradebeispiel für diese Entwicklung ist das Mansukript fr. 2810 der Französischen Nationalbibliothek in Paris, das heute unter dem Namen Livre de merveilles, also „Buch der Wunder“ oder als „Die Wunder der Erde“ bekannt ist. Die illuminierte Sammlung verschiedener Reiseberichte wurde wohl 1410 von Johann Ohnefurcht, dem Herzog von Burgund in Auftrag gegeben und nach ihrer Fertigstellung seinem Onkel, dem berühmten Sammler Johann, Herzog von Berry zum Geschenk gemacht.
Neben Texten von Marco Polo, Odorico von Pordenone, Wilhelm von Boldensele und anderen Autoren findet sich darin auf fol. 141-225 eine Ausgabe der Reisebeschreibung des Ritters Jean de Mandeville, die nun in einer großformatigen Edition vorliegt.
Über den Autor ist wenig bekannt. Nach eigenen Angaben wurde er in England geboren und brach 1322 zu einer Reise auf, die ihn nicht nur zu den Stätten des Heiligen Landes, sondern in zahlreiche weitere ferne und wundersame Regionen der Erde geführt haben soll. Im Jahre 1356 habe er dann begonnen, seine Erlebnisse und sein Wissen niederzuschreiben. Mandevilles Werk ist in etwa 300 teils illuminierten Abschriften und Übersetzungen überliefert, von denen die Fassung im Livre de merveilles als bedeutendste gilt.
Der Inhalt ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten schildert Mandeville verschiedene Pilgerrouten ins Heilige Land sowie die dortigen Sehenswürdigkeiten und heiligen Stätten sowie Wunder und Ereignisse, die sich dort nach Zeugnis der Bibel und anderer Quellen zugetragen haben sollen. Im zweiten Teil werden kurz die Regionen Afrikas und dann ausführlicher jene Asiens beschrieben, wo seltsame Völker mit eigenartigen Sitten und Gebräuchen heimisch sind.
An der Gestaltung waren (mindestens) zwei Maler beteiligt, die der Forschung als „Mazarine-Meister“ und „Egerton-Meister“ bekannt sind. Durch den Umstand, dass in Mandevilles Text vornehmlich fremde und exotische Orte, Lebewesen, Völker und Geschehnisse geschildert werden, konnten sie nicht einfach auf vertraute Bildmotive zurückgreifen, wie sie z.B. in den beliebten Stundenbüchern der Zeit immer wieder variiert wurden. Aus dem Zwang, das Fremde und Exotische in eine dennoch verständliche Bildsprache zu übertragen, entstand ein überaus originelles und innovatives Bildprogramm, das auf die französische Buchproduktion des 15. Jahrhunderts erheblichen Einfluss ausübte.
Die 74 Miniaturen sind großformatig wiedergegeben und werden einzeln ausführlich erläutert. MIt etwas Kenntnis anderer illuminierter Handschriften der Zeit lässt sich gut erkennen, wo die Maler traditionelle Bildmotive aufgegriffen und ihrem Thema entsprechend abgewandelt haben. An anderen Stellen beeindruckt hingegen, mit welcher Originalität Passagen des Texts in innovative Bildkompositionen umgesetzt wurden.
Gabriele Bartz geht in ihrem Beitrag über Identität und Arbeitsweise der beteiligten Buchmaler detailliert auf die Entstehung und Zusammensetzung des Bildprogramms ein und zeigt Beziehungen zu anderen Malern und Werken auf. Hier wäre es hilfreich gewesen, einige der genannten Beispiele zu reproduzieren, um die Vergleiche nachvollziehen zu können.
Auch Eberhard König thematisiert die Bildkompositionen in seinem Essay, verortet diese jedoch allgemeiner innerhalb der stilistischen Umbrüche der Zeit, die in Frankreich als Blütephase der Buchmalerei gilt.
In einem einleitenden Beitrag zeichnet Dieter Röschel den Hintergrund der Entstehung des Livre de merveilles und seiner Besitzerwechsel nach und ordnet Mandevilles Text und das zugehörige Bildprogramm im Gesamtkontext ein. Den Abschluss bilden kodikologische Anmerkungen zum Werk und eine Bibliographie.
Die Essays sind verständlich zu lesen, aber keinesfalls oberflächlich. Gewisse Grundkenntnisse der mittelalterlichen Buchmalerei erleichtern das Verständnis, aber die prachtvollen Miniaturen lassen sich auch ohne tieferes Wissen um ihre Entstehung und Bedeutung genießen. Mandevilles Text ist in dieser Edition nicht enthalten, lediglich die Beschreibungen der Bilder gehen auf Teile des Inhalts ein, sofern sie für das Verständnis der dagrestellten Szenen erforderlich sind.
Mandevilles Erzählungen und die Auswahl der Bildmotive bieten interessante Einblicke in das von der biblischen Überlieferung und dem christlichen Heilsgeschehen geprägte Geschichts- und Weltbild des 14. Jahrhundert. Dieses in einem weiteren Aufsatz näher zu beleuchten wäre wünschenswert gewesen.
Mit € 75,- (ab 1.2.2023: € 90,-) ist „Die Wunder der Erde“ nicht unbedingt ein Schnäppchen, liegt aber durchaus im Rahmen vergleichbarer Editionen. Die Druckqualität ist ausgezeichnet und bringt sogar das reichlich verwendete Gold des Originals angemessen zur Geltung.
Die Essays von ausgewiesenen Expertinnen und Experten ihres Fachs sind informativ und aufschlussreich. Vor allem aber sind es natürlich die farbenprächtigen und originellen Miniaturen, die diese Ausgabe der Reisen des Jean de Mandeville zu einem wertvollen Schatz im Buchregal machen. Fans mittelalterlicher Bildwelten ist die Anschaffung daher ebenso zu empfehlen wie Allen, die sich für das mittelalterliche Geschichts- und Weltbild interessieren.
Darmstadt: wbg 2022. Geb., 200 S. mit 109 farb. Abb. ISBN 978-3-534-27410-9. € 75,- (ab 1.2.2023: € 90,-).
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