Glaubten die Menschen im Mittelalter wirklich, die Erde sei flach? Wer sich einmal näher mit mittelalterlichem Denken und Philosophie beschäftigt hat, weiß, dass das nicht der Fall gewesen ist. Genauso wenig ist es eine für die Geschichtswissenschaft bahnbrechend neue Erkenntnis, dass die meisten Menschen im Mittelalter hochgradig mobil und, überspitzt ausgedrückt, ständig unterwegs gewesen sind. Auch dass Schlachten vornehmlich durch disziplinierte, koordinierte Einheiten gewonnen wurden und nicht durch blindlings anstürmende, profilierungssüchtige Einzelkämpfer, ist eigentlich ein Banalismus.
Dennoch sind derartige Mythen, Irrtümer und Unwahrheiten nach wie vor weit verbreitet, finden ihren Ausdruck nicht nur in Romanen, Kinofilmen und Fernsehdokumentationen, sondern auch in mitunter anspruchsvollen, populären Geschichtsbüchern. „Woran liegt das?“ hat sich ein deutscher Historiker gefragt und unter dem Pseudonym Ferdinand Zwidtmayr einen umfangreichen Essay zum Thema vorgelegt. Darin geht er nicht nur den genannten und weiteren hartnäckigen Unwahrheiten auf den Grund und widerlegt zahlreiche gängige Vorurteile oder falsche Auffassungen vom europäischen Mittelalter. Zugleich eröffnet er einen Blick auf die Mechanismen der historischen Forschung auf der einen, der Populärkultur auf der anderen Seite. Seine Ausführungen sind daher auch interessant und anregend zu lesen, wenn man nicht den erwähnten Irrglauben anhängt und der Ansicht ist, ein recht differenziertes und realitätsnäheres Bild vom Mittelalter zu besitzen.
Der Autor nähert sich seinen Kernfragen dabei stets aus verschiedenen Blickwinkeln. Manchem mag dieser bedächtige, zuweilen umständlich und redundant wirkende Stil etwas manieriert vorkommen. Wer Zwidtmayrs Aufforderung folgt und bei Lesen eine kritische Haltung einnimmt, sich seine eigenen Gedanken zu dessen Ausführungen macht und vielleicht auch schon mal weiter denkt, der mag sich durch diese ausschweifende Art zuweilen ausgebremst vorkommen. Dabei ist es vielleicht gerade diese zurückgelehnte, nicht auf schnelle, billige Erkenntnis oder Effekte zielende, „altmodische“ Haltung, die unserer schnelllebigen, oberflächlichen Zeit und vielleicht auch der modernen Geschichtswissenschaft mitunter fehlt.
Ich habe mich beim Lesen jedenfalls nicht nur unterhalten, sondern angeregt, herausgefordert und inspiriert gefühlt, und das schaffen längst nicht alle geschichts- oder populärwissenschaftlichen Werke. Zwidtmayrs Ausführungen sind ein geradezu leidenschaftliches Plädoyer, das Mittelalter und seine Menschen ernst zu nehmen und differenziert zu betrachten. Daher kann ich die Anschaffung und kritische, aufgeschlossene Lektüre dieses Büchleins allen historisch Interessierten nur wärmstens ans Herz legen!
Ferdinand Zwidtmayr: Wie das Mittelalter erfunden wurde. Populäre Irrtümer, Alltagsmythen und wie es dazu kommt, dass manche Unwahrheiten so hartnäckig sind
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