„Ein bemerkenswertes Phänomen mittelalterlicher Baukunst ist das völlige Fehlen von Bau- und Konstruktionsplänen, die so gestaltet sind, dass sich Gebäude damit vollständig planen lassen. Für etliche Bauwerke gibt es zwar Teilpläne einzelner Bauelemente, aber Gesamtpläne haben sich niemals gefunden.“
Dieses auffällige Fehlen von Bau- und Konstruktionsplänen beschäftigt Kunsthistoriker*innen, Bauforscher*innen, Architekt*innen und andere Wissenschaftler*innen und Pragmatiker*innen schon seit dem 19. Jahrhundert, als das (romantische) Interesse am Mittelalter und seinen Bauwerken seinen Anfang nahm.
Sollte es tatsächlich möglich sein, dass die Meisterwerke der gotischen Kathedralen und Klöster oder auch weltliche Großbauwerke wie Rat- und Warenhäuser, Steinbrücken u.a. komplett ohne zeichnerische Planung errichtet wurden? Das schien und scheint vielen Experten kaum vorstellbar.
Doch falls es sie gab: Wohin sind diese Pläne, Zeichnungen, Skizzen, Entwürfe und Ansichten dann verschwunden? Wurden sie nach Fertigstellung der Bauwerke abgeschabt und wiederverwendet – oder schlicht vernichtet, wie etliche Autoren annehmen?
„Absence of proof is no proof of absence„, also nur, weil man bislang keine Baupläne gefunden hat, bedeutet das nicht, dass es sie nicht gab – so eines der Argumente derer, die unbeirrt an ihre Existenz glauben.
Der Hauptgrund für diese Überzeugung lässt sich recht einfach zusammenfassen: Es erscheint modernen Expert*innen – Theoretikern wie Praktikern – schlicht unvorstellbar, dass Meisterwerke mittelalterlicher Architektur wie Notre Dame de Paris, der Kölner Dom, die Kathedrale von Straßburg, die gewaltigen Klosteranlagen der Zisterzienser und viele weitere ohne Konstruktionsskizzen, Grundriss- und andere Baupläne, konkrete Maßvorgaben und weitere visuelle Hilfsmittel entworfen und errichtet worden sein sollen. Kein moderner Architekt wäre dazu in der Lage, also werden es die mittelalterlichen Baumeister, die ja oftmals noch nicht einmal lesen und schreiben konnten, wohl auch nicht fertig gebracht haben – oder?
Sehr eloquent und ausführlich legt Sonja Ulrike Klug in ihrem neuen Buch dar, warum diese Einschätzung falsch ist. Tatsächlich trug gerade der Mangel an Schriftlichkeit dazu bei, dass Menschen im Mittelalter Leistungen zu vollbringen imstande waren, die uns heute unglaublich oder gar unmöglich erscheinen. Prä-literale Kulturen sind nicht vornehmlich durch einen Mangel, nämlich das Fehlen von schriftlichen Aufzeichnungen gekennzeichnet, sondern durch gänzlich andere Denkmuster und Herangehensweisen an gewisse Problemstellungen. Ein erstes Gegenargument lautet daher: Es wurden keine Baupläne erstellt, weil man sie nicht benötigte – ganz ähnlich hatte das bereits der Doyen der mittelalterlichen Bauforschung Günther Binding gesehen.
Die Autorin geht aber noch viel weiter und legt überaus überzeugend dar, warum die Existenz von schriftlichen und visuellen Planungshilfen vor dem 15./16. Jahrhundert zu bezweifeln ist. Da ist das Problem des Beschreibstoffs: Pergament war teuer, das billigere Papier setzte sich erst im 14.-15. Jahrhundert allmählich durch. Perspektivische Darstellungen, Maßstäblichkeit und Orthogonalprojektion – wesentliche Elemente von technischen Zeichnungen aller Art – waren im MIttelalter ebenfalls unbekannt. Anders als heutige Arrchitekten und Bauingenieure erlernten mittelalterliche Baumeister die Grundlagen ihrer Kunst auch nicht in Schule und Universität, sondern on the job, als Lehrlinge und Gesellen im Bauhandwerk. Lesen, schreiben, zeichen und wahrscheinlich auch rechnen waren nicht Teil ihres Curriculums – um einen rechten Winkel zu konstruieren muss man nicht den Satz des Pythagoras kennen, es genügt zu wissen, dass man die 13 Abschnitte der Knotenschnur im Verhältnis 3:4:5 zu einem Dreieck aufspannen muss.
Bleibt die Frage, wie mittelalterliche Großbauten dann geplant und umgesetzt wurden, wenn keine umfassenden Pläne zur Verfügung standen. Auch hierfür liefert Klug überzeugende Theorien, die teils auf ältere Ansichten Bindings und anderer Experten zurückgehen. Zirkel, Knotenschnur, Winkel und Richtscheit waren die wichtigsten Instrumente mittelalterlicher Baumeister, deren Nutzung und Entwicklung die Autorin ebenfalls detailliert darlegt.
„Zauberer des Zirkels“ ist mehr als ein Werk zur Kunst- und Baugeschichte des Mittelalters. Die mittelalterliche Architektur war Ausdruck mittelalterlicher Kultur, und so umfasst Klugs Darstellung kulturelle, kognitive, sprachliche, literarische, mathematische, zeichnerische und technische Aspekte, die nicht nur ihre These untermauern, sondern auch interessante Ansätze zur Betrachtung weiterer Phänomene mittelalterlicher Kultur liefern.
Trotz des anspruchsvollen Inhalts ist das Buch verständlich und unterhaltsam geschrieben, Klug argumentiert eloquent und mit vielen Zitaten und Beispielen, die ihre Gedankengänge nachvollziehbar machen. Wichtige Erkenntnisse und Schlussfolgerungen sind im Schriftbild hervorgehoben, 32 Abbildungen sorgen für zusätzliche Anschaulichkeit. Der Anhang umfasst eine Zeittafel, Fußnoten (fast ausschließlich Quellenverweise, so dass der Lesefluss nicht unnötig gestört wird), Bildnachweise sowie ein Literaturverzeichnis, aber leider kein Stichwortregister.
Sein mehrdimensionaler und interdisziplinärer Ansatz macht „Zauberer des Zirkels“ zu einer interessanten Studie mittelalterlicher Kultur und geht über die Betrachtung rein bauhistorischer Phänomene hinaus. Klugs gründlich recherchiertes Werk ist daher nicht nur für bau- und kunsthistorisch interessierte Leser*innen zu empfehlen, sondern bietet darüber hinaus wertvolle Erkenntnisse und Denkanstöße zur Beschäftigung mit der Geschichte des Mittelalters – allen voran die unausgesprochene Warnung davor, diese aus modernerm Blickwinkel zu betrachten und zu bewerten!
Oppenheim am Rhein: Nünnerich-Asmus Verlag & Media 2020. Geb., 160 S., 33 Abb. ISBN 978-3-96176-121-0. € 25,-.