"Populäre" vs. "akademische" Geschichte?

Anlässlich der Verleihung des Wolfson History Prize warf Professor Sir Keith Thomas jungen Nachwuchshistorikern kürzlich vor, ihre Thesen lieber in populären Publikationen für einen Massenmarkt zu verbreiten, als sich seriöser akademischer Forschung zu widmen. Einem Beitrag in der britischen Tageszeitung The Independent zufolge sieht der angesehene Historiker aus Oxford in der zunehmenden und erfolgreichen Popularisierung geschichtlicher Themen eine Gefahr für den „Status akademischer Forschung“. Seine Abneigung, die er mit dem Autor des Artikels im Independent und zahlreichen Fachkollegen teilt, richtet sich in erster Linie gegen die als „tele-dons“ diffamierten jungen Moderatoren populärer Geschichtssendungen im britischen Fernsehen, die im Kampf um Ruhm und Einschaltquoten wissenschaftliche Standards hintanstellten, Geschichte kommerzialisierten und komplexe Themen auf leicht konsumierbare Appetithäppchen reduzierten.

Sir Keiths Thesen haben im web 2.0 eine angeregte Debatte ausgelöst, in die sich am Tag darauf auch die britische Tageszeitung The Telegraph einschaltete. In seinem Artikel verteidigt Autor Peter Stanford die jungen Historiker und TV-Moderatoren, deren Arbeit viel dazu beitrage, ein breites Publikum überhaupt für historische Themen zu interessieren. Nicht den Akademikern, sondern den Autoren populärwissenschaftlicher Werke sei es schließlich zu verdanken, dass sich die Verkaufszahlen von Büchern mit historischen Themen in Großbritannien im vergangenen Jahrzehnt ungefähr verdoppelt haben. Statt den TV-Historikern vorzuwerfen, ihre Themen für ein breites Publikum bis zur Bedeutungslosigkeit zu trivialisieren, sollte man lieber fragen, warum so viele Hochschullehrer Geschichte auf so trockene und langweilige Art vermittelten, so der Autor.

Ich muss gestehen, ich beneide die Briten um diese Debatte – wie um so vieles, das mit Geschichte zu tun hat! Wo sind in diesem Land die jungen Historiker, die den Buchmarkt mit populären Darstellungen historischer Themen bereichern? Wo sind die Dokumentarserien im Fernsehen, die Lust auf Geschichte machen? Sind „Deutschlands Supergrabungen„, Guido Knopp, „Hitlers Hunde“, Drittes Reich und RAF tatsächlich das Einzige, was Deutschlands Vergangenheit zu bieten hat?

Auf die Diskrepanz zwischen „populären“ und „akademischen“ Geschichtsbildern habe ich unlängst bereits in einem Interview mit L.I.S.A., dem Wissenschaftsportal der Gerda-Henkel-Stiftung hingewiesen. Und nach wie vor bin ich der Ansicht, dass „populär“ nicht gleichbedeutend sein muss mit „trivial“. Geschichte ist nun mal für alle da, und sie ist  zu wichtig, um ihre populäre Darstellung allein in den Händen nicht fachlich ausgebildeter Laien, ihre wissenschaftliche Erforschung unter Ausschluss der Öffentlichkeit in den Gewölben des akademischen Elfenbeinturms vermodern zu lassen.

Ein Problem, das in Großbritannien, Deutschland und zahlreichen anderen Ländern gleichermaßen akut ist, besteht im Mangel an Berufsperspektiven für junge Historiker. Auf befristeten Arbeitsverträgen lässt sich auf Dauer keine Zukunft aufbauen. Der Taxi fahrende Geisteswissenschaftler mag eine Ausnahmeerscheinung sein – der an Universität oder Forschungseinrichtung fest angestellte junge Dr. Phil. ist es jedoch inzwischen auch! Kann man den britischen Kollegen da wirklich einen Vorwurf machen, wenn sie lukrative Angebote der TV-Sender und Publikumsverlage annehmen? In Deutschland lauten die  Alternativen derzeit vornehmlich Schuldienst, Journalismus oder freie Wirtschaft. Wie viel Potenzial geht da verloren?

Ja, ich wünsche mir, auch auf deutschen Fernsehbildschirmen junge, ausgebildete Historikerinnen und Historiker sehen zu können, die ihr Fachwissen auf unterhaltsame, spannende Weise einem breiten Publikum zugänglich machen. Die durch ihre Persönlichkeit, ihren eigenen Lebensweg vermitteln, dass die ernsthafte Beschäftigung mit Geschichte durchaus Spaß macht. Dass hinter aller Auseinandersetzung mit Quellen, Zahlen, Fakten doch immer die Menschen einer vergangenen Zeit im Mittelpunkt des historischen Interesses stehen (oder stehen sollten …).

Und wenn eine solche populäre, vielleicht sogar triviale Darstellung von Geschichte im Fernsehen, in Büchern, auf Veranstaltungen, im Internet oder wo auch immer vermehrt stattfindet, wenn sie Widerspruch aus wissenschaftlichen Kreisen nach sich zieht, wenn sie eine öffentliche Debatte um „akademische“ und „populäre“ Geschichte auslöst – wäre das nicht allemal besser als ein fortgesetztes Nebeneinander zweier Welten, zwischen denen keine Verständigung stattfindet, ja, nicht einmal versucht wird?

Wirklich, ich beneide die Briten …

 

Ferdinand Zwidtmayr: Wie das Mittelalter erfunden wurde. Populäre Irrtümer, Alltagsmythen und wie es dazu kommt, dass manche Unwahrheiten so hartnäckig sind

Glaubten die Menschen im Mittelalter wirklich, die Erde sei flach? Wer sich einmal näher mit mittelalterlichem Denken und Philosophie beschäftigt hat, weiß, dass das nicht der Fall gewesen ist. Genauso wenig ist es eine für die Geschichtswissenschaft bahnbrechend neue Erkenntnis, dass die meisten Menschen im Mittelalter hochgradig mobil und, überspitzt ausgedrückt, ständig unterwegs gewesen sind. Auch dass Schlachten vornehmlich durch disziplinierte, koordinierte Einheiten gewonnen wurden und nicht durch blindlings anstürmende, profilierungssüchtige Einzelkämpfer, ist eigentlich ein Banalismus.
Dennoch sind derartige Mythen, Irrtümer und Unwahrheiten nach wie vor weit verbreitet, finden ihren Ausdruck nicht nur in Romanen, Kinofilmen und Fernsehdokumentationen, sondern auch in mitunter anspruchsvollen, populären Geschichtsbüchern. „Woran liegt das?“ hat sich ein deutscher Historiker gefragt und unter dem Pseudonym Ferdinand Zwidtmayr einen umfangreichen Essay zum Thema vorgelegt. Darin geht er nicht nur den genannten und weiteren hartnäckigen Unwahrheiten auf den Grund und widerlegt zahlreiche gängige Vorurteile oder falsche Auffassungen vom europäischen Mittelalter. Zugleich eröffnet er einen Blick auf die Mechanismen der historischen Forschung auf der einen, der Populärkultur auf der anderen Seite. Seine Ausführungen sind daher auch interessant und anregend zu lesen, wenn man nicht den erwähnten Irrglauben anhängt und der Ansicht ist, ein recht differenziertes und realitätsnäheres Bild vom Mittelalter zu besitzen.
Der Autor nähert sich seinen Kernfragen dabei stets aus verschiedenen Blickwinkeln. Manchem mag dieser bedächtige, zuweilen umständlich und redundant wirkende Stil etwas manieriert vorkommen. Wer Zwidtmayrs Aufforderung folgt und bei Lesen eine kritische Haltung einnimmt, sich seine eigenen Gedanken zu dessen Ausführungen macht und vielleicht auch schon mal weiter denkt, der mag sich durch diese ausschweifende Art zuweilen ausgebremst vorkommen. Dabei ist es vielleicht gerade diese zurückgelehnte, nicht auf schnelle, billige Erkenntnis oder Effekte zielende, „altmodische“ Haltung, die unserer schnelllebigen, oberflächlichen Zeit und vielleicht auch der modernen Geschichtswissenschaft mitunter fehlt.
Ich habe mich beim Lesen jedenfalls nicht nur unterhalten, sondern angeregt, herausgefordert und inspiriert gefühlt, und das schaffen längst nicht alle geschichts- oder populärwissenschaftlichen Werke. Zwidtmayrs Ausführungen sind ein geradezu leidenschaftliches Plädoyer, das Mittelalter und seine Menschen ernst zu nehmen und differenziert zu betrachten. Daher kann ich die Anschaffung und kritische, aufgeschlossene Lektüre dieses Büchleins allen historisch Interessierten nur wärmstens ans Herz legen!