Forgeng (Hg.): Das Tower-Fechtbuch

Forgeng (Hg.): Das Tower-Fechtbuch, wbg.

Forgeng (Hg.): Das Tower-Fechtbuch, wbg.

Das Manuskript I.33 (neuerdings „FECHT1“) der Royal Armouries in Leeds, nach einem früheren Aufbewahrungsort auch als „Tower-Fechtbuch“ bekannt, weist einige Besonderheiten auf. Um 1320 vermutlich in einem fränkischen Kloster entstanden, gilt es als ältestes erhaltenes Werk zur mittelalterlichen Fechtkunst. Es ist ausschließlich dem Kampf mit Schwert und Buckler (einem kleinen Faustschild) gewidmet und bis auf die Verwendung einiger deutscher Fachbegriffe komplett auf Latein verfasst.
Sein Urheber, der sich im Text selbst als Luitger identifiziert, gehörte wohl dem geistlichen Stand an. Auf den hochwertigen Illustrationen wird er mit Tonsur und Mönchshabit dargestellt und als sacerdos („Priester“) bezeichnet, der einen Schüler (scolaris) unterrichtet. Im letzten Stück allerdings tritt statt diesem eine Schülerin namens Walpurgis auf – eine einmalige Erscheinung in der Geschichte der mittelalterlichen Fechtliteratur!

Bereits 2003 hatte der Fechthistoriker Jeffrey L. Forgeng eine erste englische Edition des Tower-Fechtbuchs vorgelegt. Eine stark überarbeitete Fassung erschien 2018 und diente als Grundlage für die erste deutschsprachige Gesamtausgabe, die nun von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft veröffentlicht wurde.

Das großformatige, 176 Seiten starke Werk enthält hochwertige Reproduktionen der ganzseitigen Abbildungen des Originals, Forgengs Transkription des lateinischen Texts und die deutschsprachige Fassung sowie eine Übersetzung der ausführlichen Einleitung des Herausgebers.
Letztere wurde gegenüber der Erstausgabe erheblich überarbeitet, erweitert und auf den neuesten Stand der Forschung gebracht. Forgeng fasst die Geschichte der Handschrift zusammen, soweit sie sich heute noch rekonstruieren lässt, und ordnet sie in den Korpus der erhaltenen mittelalterlichen Fechthandschriften sowie in den Kontext des zeitgenössischen Fechtens mit Schwert und Buckler ein.
Hier unterscheiden sich die Anweisungen des MS I.33 in vielen Details von den Lehren anderer Meister. So werden etwa Schwert und Buckler meistens parallel geführt, letzterer dient vornehmlich dem Schutz der Schwerthand, wird aber auch mit dem schiltslach offensiv zur Blockade der gegnerischen Hände eingesetzt. Forgeng bietet eine grobe Interpretation des beschriebenen Fechtsystems und illustriert seine Ansichten anhand des ersten dargestellten Stücks (fol. 3-4).

Seit Längerem ist bekannt, dass die Handschift unvollständig ist. Über den Verbleib der fehlenden Blätter, deren möglichen Inhalt und eventuelle Kopien davon in anderen Werken hat Franck Cinato 2016 einige sehr fundierte Überlegungen angestellt, die von Forgeng aufgegriffen, z.T. aber auch verworfen werden (vgl. F. Cinato, Development, Diffusion and Reception of the “Buckler Play”: A Case Study of a Fighting Art in the Making, in: Daniel Jaquet, Karin Verelst, and Timothy Dawson (ed.), Late Medieval and Early Modern Fight Books. Transmission and Tradition of Martial Arts in Europe (14th-17th Centuries), Leiden 2016, S. 481-546.).
Weitere kodikologische Betrachtungen der Einleitung betreffen die Anordnung der Lagen, Identifikation der Schreiberhände, den Stil der Illustrationen (und ihren Einfluss auf die Interpretation der dargestellten Techniken).

Forgengs Transkription des lateinischen Originaltexts ist solide und wurde für die Neuausgabe von 2018 nur in Details verändert. Als Grundlage für die deutsche Fassung diente jedoch nicht diese, sondern seine englische Übertragung, was in mehrfacher Hinsicht nicht unproblematisch ist.
Zum einen müssen wir davon ausgehen, dass der Urheber des Texts seine Lektionen urpsrünglich nicht auf Latein, sondern in seiner Mutterprache, also wahrscheinlich einem regionalen deutschen Dialekt vermittelt hat. Die lateinische Niederschrift stellt also bereits eine Übersetzung durch den Autor dar, die dann von Forgeng ins Englische und aus diesem nun ins Deutsche übertragen wurde. Jede Übersetzung ist zugleich eine Interpretation, die sich notwendigerweise immer weiter vom Original entfernt.
Da es sich bei einem Fechtbuch um technische Fachliteratur im weiteren Sinne handelt, wird nicht nur ein entsprechendes Fachvokabular verwendet, sondern auch scheinbar alltägliche Begriffe können in diesem Kontext eine sehr spezifische Bedeutung haben. Hier war bereits Forgengs englische Ausgabe gewisser Kritik ausgesetzt, z.T. durchaus nicht unberechtigt.
Ein Beispiel, um die Problematik zu verdeutlichen, betrifft die Verwendung und Übersetzung des Begriffs obsessio: In seiner Beschreibung des 1. Stücks schreibt Forgeng (S. 21):

Der Student nimmt eine Gegenposition ein, bezeichnet als obsessio, ein Wort, das im Allgemeinen „Blockade“ meint, was impliziert, dass sie zur Abwehr der Eingangshut dient.

In der englischen Ausgabe wird konsequent der Begriff opposition, also „Gegensatz, Entgegnung, Widerpart, Gegenstellung etc.“ verwendet.
Im Glossar der deutschen Ausgabe steht zu obsessio auch korrekt „wörtl. „Belagerung, Blockade““ und der Hinweis, dass der Begriff eine Position [!] bezeichnet, die „als Antwort auf die Hut (custodia) eines Gegners eingenommen wird.“ Tatsächlich entspricht obsessio wohl dem „Leger“ der späteren deutschen Quellen, der sich ebenfalls von belagern, Belagerung, Heerlager etc. ableitet.
Dennoch wird im deutschen Text als Übersetzung für obsessio nicht „Leger“, „Gegenhut“, „Entgegnung“, „Gegenposition“ o.ä. verwendet, sondern „Versatz“.
Versatzung, versetzen u.ä. sind Begriffe, die aus den späteren Fechtbüchern der Liechtenauer-Tradition durchaus vertraut sind. Ihnen kommt jedoch eine spezifische Bedeutung zu als dynamische Aktion, die gegen einen Angriff geführt wird und durch welche die gegnerische Klinge aus ihrer Bahn versetzt wird – und nicht als statische Position, die in Erwartung oder zur Vorbereitung eines Angriffs eingenommen (und nicht „angewendet“) wird.
Hier sorgt die deutsche Übersetzung nicht nur für einen verwirrenden Bedeutungswandel, sondern erweist sich als geradezu sinnentstellend!

Glücklicherweise handelt es sich dabei zugegebenermaßen um den einzigen Fall von derartiger Tragweite, der mir aufgefallen ist. Etliche andere Stellen und Ausdrücke sind allerdings ebenfalls nicht unproblematisch, wie etwa die Übersetzung von mutatio gladii als „Schwertwechsel“, und aus dem mittelhochdeutschen schutzen hätte durchaus ein neuhochdeutsches „Schützen“ werden können. Insgesamt hätte es sicher nicht geschadet, einen der zahlreichen Experten für das Fechten mit Schwert und Buckler nach dem MS I.33 als Berater oder zumindest Fachlektor heranzuziehen.

Wenngleich die Übersetzung also stellenweise als missglückt oder zumindest unglücklich bezeichnet werden muss, ist die Veröffentlichung der deutschen Ausgabe des MS I.33 dennoch absolut zu begrüßen! Die Reproduktionen der Abbildungen sind von erstklassiger Qualität, Transkription und Übersetzung farblich voneinander abgegrenzt. Bei fraglichen Stellen der deutschen lässt sich jederzeit schnell die lateinische Fassung konsultieren.
Forgengs Einleitung bietet wertvolle Informationen und fasst knapp und nachvollziehbar den aktuellen Forschungsstand zum MS I.33 zusammen. Weiterführende Literatur ist in der umfangreichen Bibliographie im Anhang angegeben. Dieser umfasst auch je ein Glossar (und zugleich ein Register) der lateinischen und deutschen Fachbegriffe, dem man allerdings nicht in allen Fällen zustimmen muss. Aber Diversität der Ansichten ist ja nun nicht nur ein Merkmal der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen, sondern auch der Fechtbuchforschung und der HEMA-Szene im Besonderen.
Zum nicht eben günstigen, aber angesichts der Qualität von Druck und Verarbeitung sowie der anzunehmenden Lizenzgebühren der Royal Armouries wohl akzeptablen Preis von € 62,50 (ab 1.2.2022: € 80,-!) erhält man also ein hochwertiges Faksimile, eine solide Transkription und eine überwiegend durchaus brauchbare deutsche Übersetzung des ältesten bekannten Fechtbuchs mit knapp 30 Seiten Hintergrund- und Zusatzinformationen. Da gibt es durchaus schlechtere Deals!
Wer die englische Neuausgabe von 2019 bereits besitzt und mit dem englischen Text gut zurechtkommt, kann sich die Anschaffung sparen. Allen Anderen, die sich für die Geschichte der mittelalterlichen Kampfkünste Europas, das Fechten mit Schwert und Buckler, fechtende Frauen und Priester oder auch das 14. Jahrhundert im Allgemeinen interessieren, ist eine Anschaffung dringend angeraten.

Darmstadt: wbg 2021. Geb., 176 S. zahlr. farb. Abb. ISBN 978-3-534-27239-6. Bis 31.1.2022 € 62,50, danach € 80,-.

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