Johann Preiser-Kapeller: Byzanz. Das Neue Rom und die Welt des Mittelalters

Preiser-Kapeller: Byzanz, C.H. Beck 2023.

Die Geschichte des Mittelalters ist eine ausgesprochen westeuropäische Veranstaltung. Das betrifft nicht nur die Epochengrenzen, die in anderen Regionen völlig anders gezogen werden müssten, sondern z.B. auch die Betrachtung der Quellen. Schon ost- und südosteuropäische Länder wie Polen, Tschechien oder der Balkan spielen in der westlichen Geschichtsschreibung bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Byzanz taucht allenfalls gelegentlich am Rand der Wahrnehmung auf, etwa wenn byzantinische Kunstwerke in angelsächsischen Grablegen auftauchen, ein Kreuzfahrerheer Konstantinopel plündert oder die Osmanen die Stadt schließlich erobern und in Istanbul umbenennen.
Zu diesem Zeitpunkt (1453) hatte „das andere Rom“ jedoch bereits seine eigene mehr als tausendjährige, wechselvolle und prägende Geschichte geschrieben. Sich mit dieser zu befassen kann nicht nur den eigenen geistigen Horizont erweitern, sondern eröffnet auch neue Perspektiven auf überregionale Konflikte, Handelspraktiken, religiöse Entwicklungen und andere Dynamiken.
Doch wo und wie soll diese Beschäftigung am besten beginnen? Die Antwort darauf liefert Johann Preiser-Kapeller mit seinem neuen handlichen Überblick, der – auf den ersten Blick etwas verwirrend – in der Reihe „Geschichte der Antike“ bei C.H. Beck erschienen ist.

Doch hier zeigt sich bereits der verengte Blick der westlichen Geschichtsschreibung: Das Ende der Antike und der Beginn des Mittelalters werden gemeinhin mit dem Ende des weströmischen Reiches 476 gleichgesetzt – und dabei geflissentlich übersehen, dass das von Konstantin I. begründete oströmische Reich nicht nur weiterhin Bestand hatte und das antike Erbe weiterführte, sondern in der Folgezeit zu einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Führungsmacht aufstieg, die den Gegebenheiten in West- und Mitteleuropa in jeder Hinsicht weit überlegen war.

Der Wiener Byzantinist Preiser-Kapeller skizziert diese Entwicklung auf etwas mehr als 300 Seiten in der gebotenen Kürze auf spannende und anregende Weise. Zwangsläufig treten dabei historische Persönlichkeiten, Völker und Reiche in den Blick, mit denen von der traditionellen westlichen Geschichtsschreibung geprägte Leser:innen wenig vertraut sein dürften. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, taucht ein in einen faszinierenden Kosmos, der ohne Frage das Zeug dazu hätte, den Hintergrund für eine spannende Fernsehserie im Stil von „Game of Thrones“ (ohne Magie und Drachen …) zu liefern.
Zahlreiche Konflikte prägten die Geschichte des „neuen Roms“: Zum einen innere Auseinandersetzungen, die sich u.a. in der erstaunlich hohen Zahl frühzeitig zu Tode gebrachter Herrscher äußern. Viele davon haben ihren Ursprung nicht zuletzt in der engen Verknüpfung von Politik und Religion, dem orthodoxen Christentum, das wiederum über Jahrhunderte mit der „weströmischen“ katholischen Kirche in theologischem Disput stand.
Zum anderen sah sich das oströmische Reich nahezu ständig Bedrohungen von außen ausgesetzt. Gründe hierfür waren einerseits die strategisch günstige Lage am Mittelmeer zwischen Europa und Asien und unweit der Nordostküste Afrikas sowie der augenscheinlich dort herrschende Wohstand, andererseits das eigene Expansionsstreben, das naturgemäß zu Widerstand und Konflikten mit den Nachbarn sowie anderen nach Großmacht strebenden Reichen wie dem Osmanischen führen muste.

Ungeachtet der traditionsbewussten Berufung auf das antike Erbe entwickelte das byzantinische Staatswesen in vielen Bereichen überaus moderne Züge, etwa in Militär und Verwaltung. Darüber hinaus blühten Kunst und Kultur, wenngleich z.B. herausragende Werke der Philosophie, Medizin und anderer Literatur nur vereinzelt und zögerlich im Westen rezipiert wurden, was nicht zuletzt in der Sprachbarriere begründet lag, denn die Sprache „Ostroms“ war Griechisch, das hier kaum noch gelesen und verstanden wurde.
Zum übrigen Europa bestanden dennoch vielfältige Verbindung, wenngleich der Austausch nicht immer friedlich verlief, wie nicht allein der Überfall auf Konstantinopel durch ein Kreuzfahrerheer 1204 belegt. Vor allen Dingen im Welthandel spielte Byzanz eine überaus wichtige Rolle, durch seine Beziehungen nach Afrika, nach Osteuropa, in den Kaukasus und bis nach Zentralasien, und ganz besonders als Drehscheibe und Knotenpunkt für den Handel mit exotischen Gewürzen und Luxusgütern.

Die gewaltige Ausdehnung des Reiches, innere Konflikte, beständige Angriffe von außen und weitere Faktoren hatten Byzanz schließlich so geschwächt, dass die Osmanen die Hauptstadt Konstantinopel 1453 erobern konnten. Der folgende Untergang Ostroms leitete dann auch das Ende des Mittelalters ein. Die anschließende Zeit der Renaissance im christlichen Westen ist u.a. durch eine „Wiederentdeckung“ und Rückbesinnung auf die Errungenschaften der Antike geprägt – geradezu ironisch, wenn man bedenkt, wie diese in Byzanz über rund 1.000 Jahre lang nie ganz aus dem Bewusstsein der Menschen verschwunden waren.

Johann Preiser-Kapeller versteht es, all die komplexen, teils verwirrenden Entwicklungen in Politik, Wirtschaft, Kultur und militärischen Auseinandersetzungen der tausendjährigen byzantinischen Geschichte knapp und verständlich auf den Punkt zu bringen. Dass dies auf 300 Seiten eines Taschenbuchs nur mit einer gewissen Oberflächlichkeit gelingen kann, ist selbstverständlich und für den Einstieg ins Thema keineswegs ein Manko. Das ausführliche Literaturverzeichnis bietet zudem mehr als genügend Anknüpfungspunkte für weiterführende Lektüre.
Der Anhang umfasst weiterhin eine überaus nützliche Zeittafel sowie ein nicht minder praktisches Namens- und Ortsverzeichnis. Der Text enthält einige Abbildungen und Karten, welche die Orientierung in der „terra incognita“ erheblich erleichtern.
Das Werk selbst ist in sieben Kapitel und jeweils mehrere Unterkapitel von geringem Umfang gegliedert, so dass man sich die Geschichte Ostroms in gut verdaulichen kleinen Häppchen zu Gemüte führen kann. Das lohnt sich unbedingt, denn diese Geschichte ist überaus spannend, und Preiser-Kapeller erzählt sie auf unterhaltsame und informative Weise.
„Byzanz. Das Neue Rom und die Welt des Mittelalters“ ist bestens dazu geeignet, erste Scheinwerfer auf das „schwarze Loch“ der (westeuropäischen) Mediävistik zu richten. Auch wenn man am Ende vielleicht noch nicht den ganzen Raum erfassen kann, fällt die Orientierung doch erheblich leichter. Als Einstieg in das „andere MIttelalter“ daher allen Interessierten dringend empfohlen!

München: C.H. Beck 2023. TB, 352 S., mit s/w-Abb. und Karten. ISBN 978-3-406-80680-3. € 22,-.

 

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