Bier zählt zu den ältesten Kulturgetränken der Menschheit. Älteste Hinweise stammen aus dem Neolithikum, bierähnliche Getränke sind z.B. aus Babylon und Ägypten belegt. In germanischer Zeit und im Frühmittelalter lag das Bierbrauen als Teil der bäuerlichen Selbstversorgung vorwiegend in Händen der Frauen. Doch nicht zuletzt der hohe Arbeitsaufwand sowie der Platz- und Gerätebedarf sorgten seit dem Aufkommen der Städte für einen Übergang zu gewerblicher Produktion, wodurch der eigenständige Beruf des Bierbrauers entstand.
Die zur Bierherstellung bevorzugte Getreidesorte war Gerste, der mitunter – besonders, wenn daran Mangel herrschte – Weizen, Roggen oder Hafer beigemischt wurde. Letzterer galt im Mittelalter als minderwertiges Getreide, das eigentlich nur als Viehfutter angebaut und verwendet wurde. Reine Weizenbiere wurden z. B. in Breslau, Goslar („Gose„) oder Bayern gebraut, hatten aber nur lokale Bedeutung.
Die Samenkörner wurden zunächst in Wasser eingeweicht und so zum Keimen gebracht, wobei sich die enthaltene Stärke in Zucker umwandelte. Nach etwa sieben Tagen wurde der Keimvorgang durch Trocknung der Masse auf der sogenannten Darre unterbrochen. Das so entstandene Malz konnte einige Monate gelagert werden. Unmittelbar vor Braubeginn wurde es grob gemahlen und mit warmem Wasser zur Maische vermischt, aus der dann die Würze gepresst wurde. Je nach Grad der Trocknung bzw. Röstung wurden das Malz und somit das Bier dunkler und geschmacklich intensiver; man unterschied daher zwischen Weiß- und Rotbieren.
Üblich war es, der Würze verschiedene Aromastoffe zuzusetzen, von Honig über Anis, Wacholderbeeren, Harz, Kümmel oder Ingwer bis zu verschiedenen Kräutermischungen, deren genaue Zusammensetzung Betriebsgeheimnis des jeweiligen Brauherrn war. Solche Zusätze waren besonders im Norden des Reiches verbreitet und unter der Bezeichnung „Grut“ bekannt.
In der Kirchenprovinz Köln, also zwischen Somme und Weser, war das Grutrecht im 10. und 11. Jh. ein Privileg, das die Grutherrn – meist die Bischöfe – zu alleiniger Herstellung und alleinigem Verkauf der Grut berechtigte. Die am häufigsten verwendeten Kräuter waren Gagel (Myrica gale, Heidemyrthe) oder Porst (Ledum palustre oder Rhododendron tomentosum), daneben Laserkraut, Schafgarbe, Lorbeer, Salbei, Rosmarin, Koriander, Wacholder und Mädesüß. Zuweilen wurde auch das giftige Schwarze Bilsenkraut (Hyoscyamus niger) zugesetzt, das halluzinogene Wirkung hatte, aber bereits in geringer Dosis tödlich sein konnte.
Der Kauf der Grut war Voraussetzung für den Erwerb der Braugenehmigung – kein Wunder also, dass die Obrigkeit ihr lukratives Monopol energisch verteidigte, während das System bei den Brauern nicht gerade beliebt war.
Statt der Grut begannen norddeutsche Brauer mindestens bereits im 11. Jh., der Würze Hopfen zuzusetzen, der nicht nur den Geschmack verbesserte, sondern auch bakterienhemmende Wirkung hatte. Das Endprodukt war somit länger haltbar und konnte über weitere Strecken exportiert werden. Ein weiterer Vorteil bestand darin, dass sich Hopfen im Gegensatz etwa zu Porst und Gagel kultivieren ließ; so wurden besonders ab dem 13 Jahrhundert vielerorts Hopfengärten angelegt.
Allerdings konnte Hopfenbier nur untergärig gebraut werden, d.h. bei einer Temperatur von unter 10°C, was die Brauzeit auf die Monate November bis Mai beschränkte. Doch auch die übrigen, obergärigen Biersorten wurden überwiegend im Winter gebraut, da der Verderb im Sommer noch schneller einsetzte. Bis zum Spätmittelalter hatte sich der Zeitraum zwischen St. Michael am 29. September und St. Georg am 23. April allgemein als Brausaison durchgesetzt.
Im offenen Gärbottich wurde die Würze mit Wasser verdünnt und mit Hefe versetzt, die den Zucker in Alkohol umwandelte. Das Mischungsverhältnis entschied über die Stärke des fertigen Produkts: das stärkste wurde meist für den Export gebraut und Faßbier genannt, die Tafel-, Tonnen- oder Tischbiere waren etwas schwächer. Als Kofent oder Nachlese wurde ein Dünnbier bezeichnet, für das die Würze ein zweites Mal aufgegossen wurde. Der beim Gärvorgang entstehende Hefeschaum wurde abgeschöpft und an die Bäcker verkauft.
Die Biere des Mittelalters wurden nach ihren Brauorten benannt, von denen einige zu einer Art Markenzeichen wurden. Darunter zählten Einbeck, Hamburg, Bremen, Braunschweig, Goslar und Nürnberg zu den berühmtesten. Das mit Hopfen gebraute, untergärige Bier der Hansestädte wurde im 13. Jh. zu einer Art „Exportschlager“. In Hamburg, dem „Brauhaus der Hanse“, zählte man um das Jahr 1410 etwa 500-520 Brauberechtigte, die jährlich ca. 250.000-300.000 Hektoliter produzierten. Das Bier der Hanse wurde nach Skandinavien, ins Baltikum, nach England und in die Niederlande vertrieben. Mit dem Export qualitativ hochwertiger Biere ließen sich beträchtliche Gewinne erzielen, so dass zahlreiche Brauherren zu vermögenden und einflussreichen Unternehmern avancierten, die mancherorts (z. B. in Goslar) den Rat der Stadt beherrschten.
Doch gewerbliches Bierbrauen konnte sich nur lohnen, wenn die Produktion entsprechend hoch war. Die Investitionen waren hoch, die Gefahr des Verderbs groß, das Mälzen und der Verkauf des Endprodukts mit Steuern belegt. Die Bierherstellung wurde durch städtische Brauordnungen geregelt, von denen die Augsburger von 1155 wohl die älteste ist. Meist wurden die Zahl der Brauberechtigten und der Ausstoß des einzelnen Brauvorgangs begrenzt, um Überproduktion zu verhindern und die Preise stabil zu halten. Beauftragte des Rates überwachten Malzbereitung, Braumengen, Qualität und Preisgestaltung.
Sogenannte Höchstpreistaxen galten im späten Mittelalter für zahlreiche Lebensmittel, etwa Fisch, Brot, Fleisch, Wein oder eben Bier. Eine Bierpreisordnung war auch Teil der Landesordnung, die am 23. April 1516 von den Herzögen Wilhelm IV. und Ludwig X. von Bayern auf dem Ingolstädter Landtag erlassen wurde:
„Item wir ordnen / setzen / und wöllen mit Rathe unnser Lanndtschaft / das füran allennthalben in dem Fürstenthumb Bayrn / auff dem Lande / auch in unnsern Stettn unn Märckthen / da deßhalb hieuor kain sonndere ordnung ist / von Michaelis biß auff Georij / ain mass oder kopffpiers über ainen pfenning Müncher werung / unn von sant Jorgentag / biß auff Michaelis / die mass über zwen pfenning derselben werung / und derenden der kopff ist / über drey haller / bey nachgesetzter Pene / nicht gegeben noch außgeschenckht sol werden.“
Geregelt wurde also der Bierpreis während und außerhalb der Brausaison. Doch immer war die Gefahr groß, dass unredliche Produzenten versuchten, ihren Gewinn durch die Verwendung minderwertiger Zutaten oder unlautere Beimischungen zu steigern. Davon ging, wie beim erwähnten Bilsenkraut, nicht selten eine Gesundheitsgefährdung für die Konsumenten aus.
Um derartige Experimente zu unterbinden und eine möglichst gleichbleibend hohe Qualität der bayrischen Biere sicherzustellen, heißt es in dem herzoglichen Mandat weiter:
„Wir wöllen auch sonderlichen / das füran allenthalben in unsern Stetten / Märckthen / unn auf dem Lannde / zu kainem Pier / merer stückh / dann allain Gersten / Hopfen / unn wasser / genommen unn gepraucht sölle werdn.“
Es handelte sich weder um den ersten noch um den letzten Versuch, die Bierproduktion auf die Verwendung von Gerste, Hopfen und Wasser zu beschränken, nicht in Bayern und schon gar nicht im Rest des Reiches. Viele deutsche Städte kannten seit dem 14. oder 15. Jahrhundert ähnliche Verordnungen. Eine Verordnung des Münchener Stadtrats von 1447, welche die Bierzutaten auf Gerste, Hopfen und Wasser beschränkte, wurde später auf ganz Oberbayern ausgedehnt, 1469 übernahm der Rat der Stadt Regensburg die Regelung. Ja, selbst in London wurde 1484 verfügt, dass Bier ausschließlich aus „licuor, malt and yeste“, also Wasser, Malz und Hefe zu bestehen habe!
Neu war an dem bayerischen Erlass von 1516 daher allenfalls, dass er für das gesamte (kürzlich wiedervereinigte) Herzogtum gelten sollte und sich ausdrücklich nicht nur auf die Städte, sondern auch auf Marktorte und das ländliche Brauwesen bezog. Dabei mochte eine Rolle gespielt haben, dass der Hopfen im Süden prächtig gedieh und gezielt angebaut werden konnte, ganz im Gegensatz zu Porst und Gagel, die teuer importiert werden mussten.
Nicht ganz zufällig hatte eine solche Beschränkung der erlaubten Zutaten daneben den Vorteil, die Besteuerung des Produkts zu vereinfachen. Bald wurden auch Strafzölle auf nach Bayern importierte Biere erhoben und die Ausfuhr bayerischer Biere ebenfalls mit zusätzlichen Abgaben belegt.
Nicht zuletzt richtete sich die Regelung auch gegen die „Verschwendung“ des wertvollen Brotgetreides Weizen für die Bierherstellung. Noch 1567 heißt es in einem herzoglichen Mandat, das überwiegend aus Böhmen importierte Weiß- oder Weizenbier sei
„gar ein vnnuez getranck … / das weder fueert noch nert / weder sterck / krafft noch macht gibt / vnd dahin gericht ist / das es die Zechleut / oder diejenigen dies trincken / nur zu mehrerm trincken raizt vnd vrsach.“
Die Einstellung änderte sich jedoch rasch, als Kurfürst Maximilian I. 1602 erkannte, dass sich mit einem herzoglichen Weißbiermonopol viel Geld verdienen ließ. In kurzer Zeit entstanden so 15 staatliche Weißbierbrauereien, deren Einnahmen bald den größten Einzelposten des bayerischen Staatssäckels ausmachten. Dafür sorgte auch die Verpflichtung der Wirte, stets ausreichend viele Fässer Weißbier auf Lager zu halten.
Nicht einmal einhundert Jahre nach der gesetzlichen Beschränkung der Bierzutaten auf Gerste, Hopfen und Wasser schien diese bereits in völlige Vergessenheit geraten zu sein …
Vom 17. Jahrhundert an ist jedenfalls in der bayerischen Gesetzgebung von einer derartigen Bierverordnung nirgends mehr die Rede. Ausnahmen gab es ohnehin: So wurden z.B. schon 1551 zur Herstellung bestimmter „Traditionsbiere“ die Zugabe von Koriander und Lorbeer ausdrücklich erlaubt. Die bayerische Landesverordnung von 1616 ließ außerdem Salz, Wacholder und Kümmel als Beigaben zu.
Brauwesen und Bierkultur gediehen dennoch prächtig und erreichten ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert. Allein in Bayern existierten um 1800 mehr als 30.000 Brauereien. Gaststätten entwickelten sich zu sozialen und kommunikativen Zentren von Bürgern wie Arbeitern, und gemeinsames Biertrinken avancierte zum elementaren Bestandteil der Alltags- und Freizeitgestaltung. Neue technische Errungenschaften optimierten die Brauverfahren und garantierten gleichbleibend hohe Qualität. Kältemaschinen, die Erfindung der Bügelflasche und des Kronkorkens trugen zu steigenden Absätzen bei.
Zugleich war das 19. Jahrhundert die Zeit der Wiederentdeckung und romantischen Verklärung des Mittelalters, des aufblühenden Nationalismus‘ wie auch des Regionalpatriotismus‘. Bier war Teil der deutschen, ganz besonders aber auch der bayerischen Identität. Nicht umsonst trugen zahlreiche der von deutschen Auswanderern in den USA und anderswo gegründeten Brauereien den Namen „Bavaria“ und warben mit „bayerischer Brautradition“.
Da traf es sich prächtig, dass die Bierverordnung des Landtagsabschieds von 1516 zu Beginn des 19. Jahrhunderts „wiederentdeckt“ wurde. Am 10. November 1861 wurde die Beschränkung auf Gersten, Hopfen und Wasser erneut in der bayerischen Gesetzgebung verankert, nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 wurde sie in anderen Teilstaaten übernommen, ab 1906 galt sie für das gesamte Reichsgebiet.
Von einem „Reinheitsgebot“ war jedoch zu dieser Zeit noch nicht die Rede. Der Begriff wurde wohl erstmals vom Landtagsabgeordneten und Leiter der Buchstelle bei der Akademie für Landwirtschaft und Brauerei Weihenstephan Hans Rauch in einer Sitzung des bayerischen Landtags am 4. März 1918 verwendet.
In der Weimarer Republik, der alten Bundesrepublik und der DDR regelten verschiedene Gesetze die Besteuerung des Biers und in diesem Zuge die erlaubten Zutaten. Gerste, Hopfen und Wasser waren in der Regel für untergärige Biere vorgeschrieben, bei obergärigen (wie z.B. bayerischem Weißbier) galten Ausnahmen. Seit 2005 regelt die Bierverordnung, was als „Bier“ bezeichnet und in den Handel gebracht werden darf.
Seit einigen Jahren beginnt die ursprünglich aus den USA stammende „Craft Beer“-Bewegung, auch in Deutschland Fuß zu fassen. Kleinst- und Hobbybrauereien produzieren seither zunehmend Biere, die nicht dem sogenannten „Reinheitsgebot“ entsprechen und die geschmackliche Vielfalt des deutschen Lieblingsgetränks mit verschiedenen Aromazusätzen massiv erweitern.
Der Deutsche Brauer-Bund jedoch hält eisern an der historischen, wiederentdeckten (und überholten?) Vorschrift fest. Was 1516 als Höchstpreistaxe erlassen worden war, dient den deutschen Brauereikonzernen heute als Marketinginstrument, als Schutzwall gegen ausländische Konkurrenz, als traditions- und damit identitätsstiftendes Werkzeug der Image-Pflege.
Schon 1994 wurde der 23. April zum „Tag des deutschen Bieres“ erhoben, in diesem Jahr (2016) jährt sich der Erlass der bayerischen Herzöge zum 500. Mal. Zahlreiche Medien feiern ganz im Sinne des Brauer-Bundes das „älteste Lebensmittelgesetz“ der Welt.
Betont wird dabei immer wieder gerne die „ungebrochene Tradition“, die sich bei näherer Betrachtung ebenso als reine Fiktion erweist wie die angebliche Sorge der bayerischen Herzöge um das leibliche Wohlergehen ihrer Untertanen, die zum Erlass des „Reinheitsgebots“ geführt haben soll.
Doch wie schon der große Historiker Ernst Schubert in diesem Zusammenhang feststellte:
„Fiktionen können geschichtsmächtiger als Fakten sein.“
(Ernst Schubert, Essen und Trinken im Mittelalter, 2. Auflage, Darmstadt 2010, S. 229f.)
Pingback: Fundstücke KW 16 | blog.HistoFakt.de