Auf einem öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehsender läuft ein „Doku-Drama“ über die Wirtschaftswunderjahre. In einer Szene sehen wir Konrad Adenauer, wie er mit seinem Smartphone den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy anruft. Der Bundeskanzler wird standesgemäß in einem Citroën Traction Avant 11CV kutschiert, sein Wirtschaftsminister Ludwig Erhard hingegen bevorzugt einen Porsche 911. Überhaupt mag es der CDU-Politiker sportlich: er nimmt gerne in Jeans und Turnschuhen an den Sitzungen des Bundestags teil und spielt in seiner Freizeit Ballerspiele am Computer … Weiterlesen
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Die tägliche Dosis Mittelalter – Allgegenwärtige Spuren einer längst vergangenen Zeit
[Unveröffentlichter Artikel von 2010]
Da sitzt man in der Bankfiliale seinem persönlichen Finanzberater gegenüber, der sich zunächst die Brille zurecht rückt und dann ein dickes Buch aufschlägt: wer würde in einer solchen Situation ausgerechnet an‘s Mittelalter denken? Und doch ist uns diese faszinierende und fremdartige Vergangenheit fast niemals fern.
Bank und Brille sind ebenso Erfindungen des Mittelalters wie die typische Form von Büchern, wie wir sie heute noch kennen. Und wenn besagte Bankfiliale dann auch noch in der Schmiedgasse, der Klosterstraße oder im Färbergraben liegt und unser Finanzexperte auf den Namen Bogner, Meier, Ackermann oder Müller hört – spätestens dann ist klar, das Mittelalter ist nahezu allgegenwärtig.
Das gilt z. B. auch für unsere Schrift, die eigentlich aus zwei ganz unterschiedlichen Alphabeten besteht. Ihre Großbuchstaben oder Majuskeln (von lat. maior = größer) gehen zurück auf die Schriftzeichen der römischen Capitalis oder Kapitalschrift, die auch das gesamte Mittelalter hindurch vor allem für Inschriften verwendet wurde. Die Kleinbuchstaben oder Minuskeln (von lat. minus = kleiner) hingegen entstanden zur Zeit Karls des Großen (747/748-814) in den Klöstern seines neu gegründeten Reiches.
In dieser Schrift, die daher auch als Karolingische Minuskel bezeichnet wird, wurden Jahrhunderte lang Texte der griechischen, römischen und christlichen Antike abgeschrieben. Als italienische Gelehrte der Renaissance begannen, sich für Geschichte und Kultur der vorchristlichen Zeit zu interessieren, fielen ihnen diese Dokumente in Kloster- und Privatbibliotheken dutzend- bis hundertfach in die Hände. Die eifrigen Forscher hielten sie fälschlicherweise für die antiken Originalschriften und die Buchstaben, mit denen sie geschrieben waren, daher für die authentischen Schriftzeichen des römischen Reiches.
Künstler und Schriftschneider, die das sich ausbreitende Druckereigewerbe mit Formen für Drucktypen versorgten, schufen nun ein neues, doppeltes Alphabet, bestehend aus den Großbuchstaben der römischen Kapitalschrift und den leicht abgewandelten Grundformen der Karolingischen Minuskel – in dem Glauben, den tatsächlichen Schriftgebrauch ihrer antiken Vorfahren wieder zu beleben. Konsequenterweise nannten sie ihre Neuschöpfung Antiqua, und diese Bezeichnung tragen noch heute die meisten der Zeichensätze, derer wir uns täglich am Computer bedienen. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich die „Times“, die 1931 für die gleichnamige Tageszeitung in London entwickelt wurde und in der Bezeichnung „Times New Roman“ ganz eindeutig auf dieses historische Missverständnis verweist.
Die Wurzeln der Zeitung reichen übrigens ebenfalls bis ins Mittelalter zurück. Der Begriff leitet sich von zidunge ab, womit seit dem 14. Jahrhundert ganz allgemein Neuigkeiten oder Nachrichten bezeichnet wurden. Diese wurden schon vor Gutenbergs Erfindung der Druckpresse mit beweglichen Lettern verbreitet, indem im Tiefdruckverfahren Abzüge eigens geschaffener Holzschnitte vervielfältigt wurden. Ihren Siegeszug als Informationsmedium Nr. 1 trat die Zeitung, nun mit beweglichen Lettern schnell und in hoher Auflage gedruckt, jedoch erst in den religiösen und politischen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts an.
Mit seiner Erfindung revolutionierte Johannes Gensfleisch genannt Gutenberg (1400-1468) die Produktion von Büchern, jedoch nicht deren Form. Diese entwickelte sich – wie könnte es anders sein – im Mittelalter. Zuvor war die Schriftrolle die gängige Form gewesen, in der längere Texte niedergeschrieben und aufbewahrt wurden, denn der am weitesten verbreitete Beschreibstoff der Antike war Papyrus, der nur von einer Seite beschrieben werden konnte und sich nicht ohne Beschädigungen knicken ließ. Doch der Papyrus wuchs in Ägypten, musste also teuer nach Europa importiert werden, wo er zudem das kalte und feuchte Klima schlecht vertrug.
Alternativen mussten her, zumal das sich ausbreitende Christentum einen enorm anwachsenden Bedarf an Schriftgut mit sich brachte. Pergament, die ungegerbte Haut von Ziegen, Schafen oder Kälbern, war zwar ebenfalls seit dem Altertum bekannt, seine Herstellung jedoch aufwändiger und teurer als die des Papyrus‘. Dafür ließ es sich von beiden Seiten beschreiben, war unempfindlicher gegenüber der Feuchtigkeit und konnte gefaltet werden.
Zusammen mit dem „neuen“ Beschreibstoff verbreitete sich daher eine neue Buchform: der Codex. Seine Bezeichnung leitet sich ab vom lateinischen Wort caudex für Baumstamm oder Holzklotz, denn nachdem die Pergamentbogen gefalzt und am Rücken vernäht waren, wurden sie in hölzerne Buchdeckel eingefasst, die meistens mit Leder bezogen waren und reich verziert sein konnten. Einige trugen Schließen oder Schnallen und verfügten über kleine Messing- oder Bronzebuckel, so genannte Schonerknöpfe auf ihrer Vorderseite. Denn bis ins 17. Jahrhundert wurden Bücher überwiegend liegend gelagert.
Die neue Form der Bücher bot etliche Vorteile gegenüber der Papyrusrolle. Da die Seiten beidseitig genutzt werden konnten, ließ sich doppelt so viel Text auf der gleichen Fläche unterbringen; das sparte Platz und Material. Außerdem waren sie durch die Buchdeckel besser geschützt, und ein bestimmter Text ließ sich in einer umfangreichen Bibliothek leichter finden, indem man einfach den Titel oder ein bestimmtes Kürzel auf dem Buchrücken anbrachte. Und schließlich waren einzelne Textstellen einfacher ausfindig zu machen als auf einer Rolle: man konnte die Bogen oder Seiten nummerieren oder einen Index anlegen, was besonders bei den täglichen Bibellesungen von größtem Nutzen war.
Die Form der mittelalterlichen Codices erscheint uns heute vertraut, denn es hat sich nicht viel daran verändert. Allerdings bekommen wir nur noch selten in Leder gebundene Bände in die Finger, und das Pergament ist ganz aus der Buchproduktion verschwunden. Stattdessen kommt Papier zum Einsatz, das allerdings – man ahnt es schon – ebenfalls bereits im Mittelalter verwendet wurde. Erfunden wurde es von den Chinesen schon einige Jahrhunderte vor Christus, doch nach Europa gelangte es erst im 9. oder 10. Jahrhundert über die islamischen Länder. Eine eigenständige Papierproduktion entwickelte sich zuerst in Spanien und Frankreich, in Deutschland gründete der Nürnberger Kaufmann Ulman Stromer 1390 die erste Papiermühle.
Der Rohstoff zur Papierherstellung war damals noch nicht Holz, sondern Lumpen, die in Fetzen gerissen, in Wasser gestampft und zu einem Brei verrührt wurden. Mit einem Siebrahmen, durch den das Wasser ablaufen konnte, wurde diese so genannte Pulpe aus der Bütte geschöpft, auf Filze gestürzt und in einer Presse vom restlichen Wasser befreit. Nach dem Trocknen auf langen Leinen wurden die Bogen in einer Leimlösung getränkt, damit sie später die Tinte besser aufnehmen konnten, erneut getrocknet und schließlich sortiert, gestapelt und in Massen verkauft.
Papier war billig, schnell und in großen Mengen produzierbar, in Sachen Haltbarkeit und Ästhetik jedoch ein deutlicher Rückschritt gegenüber dem Pergament. In dieser Hinsicht wäre zu wünschen, wir wären von noch ein wenig mehr Mittelalter umgeben als dies ohnehin schon der Fall ist.
Buchtipp:
Lebende Bilder aus dem Luttrell-Psalter
Als Psalter bezeichnet man ein liturgisches Werk, das die König David zugeschriebenen 150 Gebete und Gesänge der Psalmen umfasst. Er diente Geistlichen wie Laien gleichermaßen als Andachtsbuch und wurde im Laufe einer Woche in den Stundengebeten einmal komplett gelesen bzw. gesungen. Ergänzt wurden die Psalmentexte mitunter durch weitere Gebete wie das Vaterunser oder Mariengebete, das Glaubensbekenntnis, ein Antiphon, Kalendarium o.ä.
Psalter zählten in illuminierter Form oder als reine Textausgaben zu den am weitesten verbreiteten Buchformen des Mittelalters. Bei einigen der prachtvollsten erhaltenen Handschriften handelt es sich um Psalter, die mitunter zu Krönungen oder Eheschließungen von Herrschern angefertigt wurden.
Zu den bekanntesten und interessantesten zählt der sogenannte Luttrell-Psalter, der sich heute unter der Signatur Add. MS 42130 in der British Library in London befindet. Er wurde ungefähr zwischen 1325 und 1340 von unbekannten Schreibern und Illuminatoren angefertigt. Auftraggeber war Sir Geoffrey Luttrell (1276-1345), ein wohlhabender adeliger Landbesitzer aus Irnham in Lincolnshire.
Bemerkenswert ist der Luttrell-Psalter vor allen Dingen wegen seiner zahlreichen ausdrucksstarken Darstellungen von Alltagsszenen. Die Mediävistik und insbesondere die Kostümforschung hat das Werk schon seit geraumer Zeit als wertvolle Quelle zu Bekleidung, Ausstattung und Alltag sowie haus- und landwirtschaftlichem Gerät der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entdeckt.
Eine Gruppe namens WAG Screen, die sich der filmischen Dokumentation von Geschichte und Kultur in Lincolnshire verschrieben hat, machte sich im Jahr 2008 daran, Szenen aus dem Luttrell-Psalter originalgetreu in Szene zu setzen. Bekleidung, Gerätschaften und Szenerie wurden anhand der Miniaturen der Handschrift rekonstruiert, und im Verlauf eines Jahres wurden die einzelnen Szenen an verschiedenen historischen Schauplätzen in bewegte Bilder umgesetzt.
Der „Luttrell Psalter-Film“ kommt ohne Text aus und bietet dennoch einen wunderbaren Einblick in das ländliche Leben des 14. Jahrhunderts. Eine sehr gelungene Umsatzung einer originellen und absolut nachahmenswerten Idee – es gibt noch zahlreiche illuminierte Handschriften aus dem Mittelalter, die es verdienen, in bewegte und lebendige Bilder übertragen zu werden.
Weitere Informationen sowie Hinweise auf andere spannende Projekte gibt es auf der Seite der Macher: http://www.luttrellpsalter.org.uk. Auf dem YouTube-Kanal von WAG Screen finden sich außerdem weitere Filme und Szenen „hinter den Kulissen“.
Copyright – Ein Kommentar aus dem Mittelalter
Colum Cille, auch genannt Columban der Ältere oder Columban von Iona, war ein irischer Mönch und Missionar des 6. Jahrhunderts. Geboren 521 oder 522 im heutigen County Donegal, wurde er einer von zwölf Schülern des heiligen Finnian, die später als „Zwölf Apostel Irlands“ werden sollten. Über seinen Vater war er mit dem mächtigen und kriegerischen Clan der Uí Néill verwandt, die damals über die Provinz Ulster herrschten und den Titel des Hochkönigs von Irland beanspruchten.
Um das Jahr 560 besuchte Colum Cille seinen alten Lehrmeister Finnian in dessen Kloster Drumm Finn. In dessen Bibliothek entdeckte er einen prächtigen Psalter und bat seinen Besitzer, ihn abschreiben zu dürfen. Bücher waren zu jener Zeit in Irland noch überaus rar, und es war üblich, dass einzelne Werke von einem Kloster an das nächste ausgeliehen wurden, um Kopien anzufertigen, oder dass Mönche von Kloster zu Kloster reisten, um Abschriften zu erstellen.
Finnian allerdings verweigerte seinem ehemaligen Schüler die Genehmigung, den betreffenden Psalter zu kopieren. Daraufhin entschloss sich dieser, es heimlich dennoch zu tun, und ging im Skriptorium des Klosters sogleich ans Werk. Finnian jedoch entdeckte die Abschrift und ließ sie konfiszieren, da Colum Cille gegen seinen ausdrücklichen Willen gehandelt habe. Dieser jedoch argumentierte, dass es sich bei der Kopie um sein eigenes Werk handele und er ja nicht das Original zu entwenden trachtete.
Der Disput zog sich einige Zeit lang hin, und schließlich wurde der Fall dem König von Tara, Diarmait mac Cerbaill vorgelegt und dieser um eine Entscheidung gebeten. Das Urteil des Herrschers lautete: „Die Kopie gehört zum Buch wie das Kalb zur Kuh.“
Colum Cille war mit dieser Entscheidung erwartungsgemäß alles andere als zufrieden und verfluchte den König. Wahrscheinlich ist es daher mehr als Zufall, dass sich die Familie des streitbaren Mönchs 561 bei Cúl Dreimne eine erbitterte Schlacht mit dem Clan des Königs lieferte, bei der auf beiden Seiten zahlreiche Krieger ums Leben kamen.
Eine Synode verurteilte Colum Cille daraufhin und drohte, ihn zu exkommunizieren. Doch der heilige Brendan setzte sich für ihn ein und erwirkte, dass das Urteil in Verbannung umgewandelt wurde. Colum Cille erklärte sich bereit, als Missionar nach Schottland zu gehen und so viele Menschen zu bekehren, wie in der Schlacht getötet worden waren. Er begann seine Missionstätigkeit im Jahr 563 und kehrte nur einmal für einen kurzen Besuch in sein Heimatland Irland zurück.
Colum Cille starb 597 in dem von ihm gegründeten Kloster auf Iona. Er gilt heute als einer der erfolgreichsten Missionare und bedeutendsten Heiligen Irlands. Wenig verwunderlich, dass er auch als Schutzpatron der Buchbinder Verehrung findet …
Bei der von Colum Cille angefertigten Kopie soll es sich übrigens um das Buch „Cathach“ („Krieger“) handeln, dass sich heute in der Royal Irish Academy in Dublin befindet.
Ferdinand Zwidtmayr: Wie das Mittelalter erfunden wurde. Populäre Irrtümer, Alltagsmythen und wie es dazu kommt, dass manche Unwahrheiten so hartnäckig sind
Glaubten die Menschen im Mittelalter wirklich, die Erde sei flach? Wer sich einmal näher mit mittelalterlichem Denken und Philosophie beschäftigt hat, weiß, dass das nicht der Fall gewesen ist. Genauso wenig ist es eine für die Geschichtswissenschaft bahnbrechend neue Erkenntnis, dass die meisten Menschen im Mittelalter hochgradig mobil und, überspitzt ausgedrückt, ständig unterwegs gewesen sind. Auch dass Schlachten vornehmlich durch disziplinierte, koordinierte Einheiten gewonnen wurden und nicht durch blindlings anstürmende, profilierungssüchtige Einzelkämpfer, ist eigentlich ein Banalismus.
Dennoch sind derartige Mythen, Irrtümer und Unwahrheiten nach wie vor weit verbreitet, finden ihren Ausdruck nicht nur in Romanen, Kinofilmen und Fernsehdokumentationen, sondern auch in mitunter anspruchsvollen, populären Geschichtsbüchern. „Woran liegt das?“ hat sich ein deutscher Historiker gefragt und unter dem Pseudonym Ferdinand Zwidtmayr einen umfangreichen Essay zum Thema vorgelegt. Darin geht er nicht nur den genannten und weiteren hartnäckigen Unwahrheiten auf den Grund und widerlegt zahlreiche gängige Vorurteile oder falsche Auffassungen vom europäischen Mittelalter. Zugleich eröffnet er einen Blick auf die Mechanismen der historischen Forschung auf der einen, der Populärkultur auf der anderen Seite. Seine Ausführungen sind daher auch interessant und anregend zu lesen, wenn man nicht den erwähnten Irrglauben anhängt und der Ansicht ist, ein recht differenziertes und realitätsnäheres Bild vom Mittelalter zu besitzen.
Der Autor nähert sich seinen Kernfragen dabei stets aus verschiedenen Blickwinkeln. Manchem mag dieser bedächtige, zuweilen umständlich und redundant wirkende Stil etwas manieriert vorkommen. Wer Zwidtmayrs Aufforderung folgt und bei Lesen eine kritische Haltung einnimmt, sich seine eigenen Gedanken zu dessen Ausführungen macht und vielleicht auch schon mal weiter denkt, der mag sich durch diese ausschweifende Art zuweilen ausgebremst vorkommen. Dabei ist es vielleicht gerade diese zurückgelehnte, nicht auf schnelle, billige Erkenntnis oder Effekte zielende, „altmodische“ Haltung, die unserer schnelllebigen, oberflächlichen Zeit und vielleicht auch der modernen Geschichtswissenschaft mitunter fehlt.
Ich habe mich beim Lesen jedenfalls nicht nur unterhalten, sondern angeregt, herausgefordert und inspiriert gefühlt, und das schaffen längst nicht alle geschichts- oder populärwissenschaftlichen Werke. Zwidtmayrs Ausführungen sind ein geradezu leidenschaftliches Plädoyer, das Mittelalter und seine Menschen ernst zu nehmen und differenziert zu betrachten. Daher kann ich die Anschaffung und kritische, aufgeschlossene Lektüre dieses Büchleins allen historisch Interessierten nur wärmstens ans Herz legen!
Das Sammelsurium
Die mittelalterliche Gesellschaft kannte Mangel und Überfluss, Armut und Reichtum, Elend und Luxus, und das alles zur gleichen Zeit, am gleichen Ort, in zuweilen extremen Ausmaßen. Vergleicht man die Aufwendungen für höfische Feste mit der kargen Alltagskost der Massen, dem Hunger in Jahren schlechter Ernten (und die gab es regelmäßig), so gewinnt man einen drastischen, aber realen Eindruck vom Spektrum des Möglichen. Ein fürstlicher Haushalt konnte an einem einzigen Tag leicht mehr verbrauchen als die Familie selbst eines wohlhabenden Handwerkers in einem ganzen Jahr auf den Tisch bekam – zur Landshuter Fürstenhochzeit 1475 unter anderem allein 330 Ochsen und 684 Spanferkel!
Zurschaustellung von Wohlstand und Luxus – „Zeigen, was man hat“ – zählte zu den Rechten, aber auch nachgerade zu den Pflichten von Herrschaft und Adel. Reichtum und Überfluss waren sichtbare Zeichen dafür, dass der Betreffende von Gott begünstigt wurde, Repräsentation war gleichermaßen ein persönliches Bedürfnis von Einzelnen wie eine politische Notwendigkeit, wollte man sich die Unterstützung und Freundschaft anderer Mächtiger sichern.
Zu den wichtigsten Tugenden der Reichen und Mächtigen zählte daher die Freigebigkeit: „Geschenke erhalten die Freundschaft“ heißt es nicht umsonst, und wer die Armen, Hungernden und Notleidenden mildtätig unterstützte, der konnte sich des Wohlwollens Gottes, der Kirche und der Nachwelt einigermaßen sicher sein. Wenngleich Verschwendung und Prunksucht beliebte Kritikpunkte geistlicher Autoren des Mittelalters waren, die insbesondere von Vertretern der Bettelorden gerne angeprangert wurden, so herrschte dennoch ein breiter gesellschaftlicher Konsens, der Repräsentation und Luxus als Vorrecht, ja: als Notwendigkeit adeligen Lebensstils akzeptierte. Streit entzündete sich eher an der Frage, wo die Grenze zwischen angemessenem Aufwand und Prunksucht, zwischen legitimer Zurschaustellung und Eitelkeit, zwischen Genuss und Völlerei, mithin zwischen zulässiger standesgemäßer Repräsentation und Sünde zu ziehen sei.
Wenn jedoch von „Verschwendung“ die Rede ist, so galten im Mittelalter ganz andere Maßstäbe als heutzutage. Ja, man kann wahrscheinlich ohne Übertreibung sagen, dass ein durchschnittlicher Familienhaushalt heute verschwenderischer wirtschaftet, als es selbst dem reichsten mittelalterlichen Herrscher jemals in den Sinn gekommen wäre. Man denke nur an all die Einmalprodukte, an Verpackungsmaterialien, an die unglaublichen Mengen Müll, die wir tagtäglich produzieren! Man denke an die Halbwertszeit von Moden, die Lebensdauer technischer Geräte. Man denke an Milchseen und Butterberge.
Wurde im Mittelalter ein Rind geschlachtet, so kam sein Fleisch zum Metzger, die Haut zum Gerber, die Knochen zum Beinschnitzer, Drechsler, Würfel- oder Kammmacher, aus den Hufen wurde Leim gesiedet, das Fett in Form von Talg zu Kerzen verarbeitet. Aus Schweinsborsten wurde Bürsten, Pferdehaare wanderten in Matratzen und Polster, sogar der Urin war noch zum Gerben gut.
Fahrzeuge, Werkzeuge, Transportverpackungen, selbst Teller und Schüsseln bestanden aus Holz. Ging etwas kaputt, so wurde es repariert, was nicht mehr zu reparieren war diente als Feuerholz. Vom Pergament konnte man die Tinte abschaben, um es als Palimpsest neu zu beschreiben, oder es ließ sich immerhin noch in der Buchbinderei wiederverwenden. Recycling ist keine Entdeckung der Neuzeit!
Kein Mensch wäre im Mittelalter auf die Idee gekommen, Lebensmittel und Speisereste einfach wegzuwerfen. Was von der wohlhabenden Tafel übrig blieb, landete entweder auf dem Tisch des Dienstpersonals oder wurde an die Armen und Bedürftigen verteilt. Was die weniger Begüterten nicht an einem Tag verzehren konnten wurde gesammelt, in Essig eingelegt und aufgekocht – man nannte es das Sammelsurium, „saures Gesammeltes“, ein Armeleuteessen, eine nicht unbedingt delikate, aber gebotene Resteverwertung.
Heute bezeichnet der Ausdruck „Sammelsurium“ eine bunte Mischung, eine ungeordnete Ansammlung von Gedanken, Fakten, Geschichten, Fundstücken, Kuriositäten etc. In diesem Sinne – und nicht als „aus der Not geborene, wenig geschmackvolle Resteverwertung“ – soll dieses Blog ein Sammelsurium sein.
Ich hoffe, es wird Niemandem sauer aufstoßen, aber Viele unterhalten. Es soll anregen – zum Lesen, zum Nachdenken, zum Forschen, zur Beschäftigung mit Geschichte und insbesondere der spannenden, vielfältigen, bunten Welt des Mittelalters. Ich denke, mir wird es viel Spaß bereiten, und Dir und Ihnen hoffentlich auch!
Jan H. Sachers M.A.
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