Lebendige Geschichtsdarstellung, „Reenactment“ und „experimentelle Archäologie“ sind Begriffe, die seit einigen Jahren auch in der Berichterstattung populärer Medien wie Spiegel Online oder SZ Online immer wieder auftauchen. Oft genug wird dabei jedoch nicht ausreichend zwischen den einzelnen Konzepten unterschieden, werden etwa „Reenactment“ und „experimentelle Archäologie“ als Synonyme verwendet oder unter der Bezeichnung „Histotainment“ zusammengefasst.
Ohne auf ihre Anwendung in didaktischen oder anderen Kontexten näher einzugehen, will ich im Folgenden versuchen, diese Begriffe und die hinter ihnen stehenden Konzepte zu erläutern. Da es keine allgemein gültigen, von einer übergeordneten Instanz festgelegten Definitionen gibt (oder geben kann), spiegeln diese Ausführungen letzten Endes meine persönliche Sicht wider und weichen zum Beispiel mitunter von den verlinkten Definitionen aus der deutschen Wikipedia ab.
Dennoch hoffe ich, mit diesem Beitrag ein wenig Licht ins Dunkel der Begriffe zu bringen und der Sprachverwirrung entgegen wirken zu können.
Living history oder reenactment? Ein "Normanne" und ein "Angelsachse" am Schauplatz der Schlacht von Hastings.
Histotainment
Der Begriff ist ein Kunstwort, zusammengesetzt aus den englischen Ausdrücken history und entertainment. Bezeichnet werden so gerne Versuche aller Art, mit Geschichte zu unterhalten oder Geschichte unterhaltsam zu präsentieren. Darunter fallen etwa mit Spielszenen angereicherte TV-Dokumentationen zu historischen Themen ebenso wie Darstellungen in Museen oder auf Veranstaltungen wie z.B. Mittelaltermärkten, aber auch Lernspiele, Bastelbücher oder Mitmach-Angebote unterschiedlichster Art.
Der Begriff wurde in der Vergangenheit oft abwertend verwendet, bevorzugt um oberflächliche Geschichtsdarstellungen im Fernsehen zu bezeichnen. Seit 2003 ist „Histotainment“ eine eingetragene Wort- und Bildmarke der Histotainment GmbH Osterburken.
Living History
Living History bezeichnet ganz allgemein das Nacherleben vergangener Epochen, das unterschiedliche konkrete Formen annehmen kann. Im Vordergrund steht zunächst weniger die Darstellung nach außen, als das persönliche Erlebnis des Akteurs, der sich für einen begrenzten Zeitraum in Bekleidung, Ernährung, Ausstattung, Handeln, allgemeinen Lebensumständen etc. auf die von ihm gewählte historische Epoche einlässt.
Im weiteren Sinne kann living history auch das allgemeine Erlebbarmachen von Geschichte bezeichnen, von der Anlage eines Klostergartens nach Vorgaben des 10. Jahrhunderts über die Rekonstruktion und Erprobung historischer Fahrzeuge oder Maschinen bis zum Bau von Gebäuden nach historischem Vorbild und mit zeitgenössischen Methoden und Werkzeugen. Auch die Wiederbelebung alter Kampfkünste lässt sich als living history deuten.
Lebendige Geschichte, erlebbare Geschichte
Das gesamte Bedeutungsspektrum des englischen Ausdrucks „living history“ – lebendige Geschichte, Geschichte (er-)leben – lässt sich im Deutschen nicht wiedergeben. Die Bezeichnung „lebendige Geschichte“ wird meistens synonym für living history verwendet. „Erlebbare Geschichte“ betont stärker den Erfahrungscharakter, das Selbermachen, Dabeisein – Geschichte wird nicht einfach lebendig, sondern sie wird zum Leben erweckt, durch Darsteller, Atmosphäre, Ausstattung, Ausübung oder Vorführung historischer Tätigkeiten etc. Im Übrigen gilt das unter dem Stichwort „living history“ Gesagte.
Lebendige Geschichte: Altes Handwerk in Aktion.
Reenactment
Reenactment bedeutet „Wiederaufführung“, ist aber etwas weniger sperrig als der deutsche Ausdruck und seit langem eingeführt. Er bezeichnet die Inszenierung oder Darstellung konkreter historischer Ereignisse – meistens Schlachten, aber etwa auch Hochzeiten, Krönungen, Belagerungen, Hannibals Marsch über die Alpen oder ähnliches. Die Veranstaltung eines Ritterturniers in heutiger Zeit ist zunächst einmal kein Reenactment, es sei denn, es handelt sich um die Inszenierung eines historisch belegten Turniers, das zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit tatsächlich stattgefunden hat, und die Teilnehmer übernehmen Rollen, die sich aus entsprechenden Quellen belegen lassen. Verlauf und Ausgang einer solchen Darstellung sind daher zumindest bis zu einem gewissen Grad durch die Überlieferung vorgegeben: Da King Harold bei der Schlacht von Hastings 1066 ums Leben kam, darf er bei den alljährlichen Reenactments nicht überleben, sein Tod muss also entsprechend inszeniert werden.
Reenactments sind also Bestandteil von living history, aber nicht jede Darstellung von lebendiger Geschichte ist reenactment.
First Person Interpretation
Bei der first person interpretation schlüpft ein Darsteller in die Rolle einer konkreten (realen oder fiktiven) historischen Person. Er spricht also in der 1. Person, ganz gleich, ob er mit Mitspielern agiert oder sich ans Publikum wendet. Während die first person interpretation für Reenactments unabdingbare Voraussetzung ist, gilt das für andere Formen der Geschichtsdarstellung oder living history nicht unbedingt. Anders ausgedrückt: Das Tragen einer historischen Gewandung verpflichtet nicht automatisch dazu, eine Rolle einzunehmen und in deren Sinne zu sprechen und zu agieren.
Einer solchen Interpretation sind natürliche Grenzen gesetzt. Während etwa für das 18. oder 19. Jahrhundert Umgangsformen aus Benimmbüchern und anderen Quellen überliefert sind, ist deren Anwendung im Alltag keineswegs immer gesichert. Noch problematischer sind Darstellungen aus früheren Epochen wie Mittelalter oder Antike, wo bereits die Sprachformen (Mittelhochdeutsch, Latein o.ä.) Darsteller wie Publikum vor kaum zu überwindende Probleme stellen.
Third Person Interpretation
Im Unterschied zur first person interpretation wird bei der Verwendung der 3. Person die Distanz zur dargestellten Epoche gewahrt. Der Darsteller trägt zwar zeitgenössische Bekleidung, übt vielleicht auch historische Tätigkeiten aus oder führt diese vor, bleibt dabei jedoch er selbst, spielt also keine Rolle. Diese Form der Interpretation erleichtert die Interaktion mit dem Publikum und eignet sich besonders für Museumsführungen, Programme in Schulen und ähnliche Veranstaltungen, die in einem eindeutig modernen, didaktischen Kontext stehen und keine Spielszenen umfassen oder erfordern. Insbesondere für Epochen oder Kulturen, bei denen Sprach- oder andere Schwierigkeiten einer first person interpretation entgegenstehen, bietet sich die 3. Person als Alternative an.
Experimentelle Archäologie oder doch "nur" living history? Rekonstruktion und Betrieb eines Tretkrans nach mittelalterlichem Vorbild.
Experimentelle Archäologie
Die experimentelle Archäologie versucht, durch archäologische Untersuchungen gewonnene Erkenntnisse durch praktische Anwendung zu verifizieren. Zu ihren typischen Aufgaben zählen etwa Nachbau und Erprobung historischer Werkzeuge, Waffen, Gewebe, Fahrzeuge, Alltagsgegenstände, Behausungen etc., aber auch Färbeversuche mit Pflanzenfarben, Eisengewinnung im Rennfeuerofen und vieles mehr. Im Vordergrund steht der Erkenntnisgewinn durch wissenschaftliche Methoden, d.h. Quellenlage, Vorbereitung, Durchführung und Ergebnisse des Experiments werden nach bestimmten Standards dokumentiert. Das „Erlebbarmachen“ von Geschichte ist dagegen zweitrangig, Experimentalarchäologen tragen nur ausnahmsweise historische Bekleidung und üben ihre Arbeit nicht vorrangig vor Publikum aus. Dennoch gibt es Überschneidungen mit der living history, die in vieler Hinsicht auf den Erkenntnissen der experimentellen Archäologie basiert und deren Protagonisten im besten Fall auch selbst nach experimentalarchäologischen Standards arbeiten.
Die „Europäische Vereinigung zur Förderung der experimentellen Archäologie e.V.“ (EXAR) bemüht sich u.a. um eine Vereinheitlichung solcher Standards.
LARP
LARP ist die Abkürzung für live action role play, oft auch als Live-Rollenspiel bezeichnet. Die Akteure spielen eine Rolle und tragen entsprechende Kostüme. LARPs können in einem historischen Kontext stattfinden, weit häufiger sind jedoch Fantasy- oder Science Fiction-Szenarien. Anders als bei Reenactments folgen die Geschichten keinem festen „Drehbuch“, sondern können je nach Verhalten und Interaktion der Akteure einen anderen Verlauf nehmen. Beim LARP geht es nicht um die Darstellung von Geschichte, sondern um das Erleben von Geschichten.
SCA
Die Society for Creative Anachronism („Gesellschaft für kreativen Anachronismus“, SCA) wurde 1966 von US-amerikanischen Studenten gegründet. Inzwischen gibt es zahlreiche Gruppen und Anhänger auf der ganzen Welt, die in frei erfundenen „Königreichen“ organisiert sind. Einige Mitglieder betreiben sehr ernsthafte Forschungen und versuchen, das Leben vor dem Jahr 1600 zu rekonstruieren und erlebbar zu machen. Andererseits inkorporiert die Welt der SCA aber auch zahlreiche Elemente des LARP, etwa in ihren Turnieren, bei denen Polsterwaffen zum Einsatz kommen, oder in Szenarien, mit denen die Geschichte der fiktiven Königreiche erzählt wird. Das (inoffizielle) Motto der SCA lautet: „Das Mittelalter, wie es hätte sein sollen“.